Belehrung über den Gegenstand des Strafverfahrens
Das Bundesgericht beantwortet die in der Praxis ganz entscheidende Frage über die Informationsdichte, welche der Vorhalt zu Beginn der Einvernahme enthalten muss (vgl. dazu Art. 143 Abs. 1 lit b StPO und Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO). Die Frage ist deshalb von Bedeutung, weil eine ungenügende Belehrung zur absoluten Unverwertbarkeit führen muss (Art. 158 Abs. 2 StPO). Die Strafverfolger stellen sich regelmässig auf den Standpunkt, es reiche die Nennung des Tatbestands und der entsprechenden Strafnorm, also bspw. Betrug, Art. 146 StGB. Dass dies nicht genügen kann, ist in der Lehre m.W. unbestritten und wird nun verdankenswerter Weise auch vom Bundesgericht bestätigt (BGer 6B_1021/2013 vom 29.09.2014):
Die Vorwürfe sind möglichst umfassend darzulegen. Demnach würde etwa der pauschale Vorwurf des Handels mit Betäubungsmitteln oder gar allgemein des Verstosses gegen das BetmG nicht genügen; vielmehr wären der beschuldigten Person nach Ort und Zeit bestimmte Handlungen vorzuhalten, die einen derartigen Verstoss bedeuten. Vorzuhalten ist also – nach dem aktuellen Verfahrensstand – ein möglichst präziser einzelner Lebenssachverhalt und der daran geknüpfte Deliktsvorwurf, nicht aber bereits die genaue rechtliche Würdigung (vgl. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1192 f. Ziff. 2.4.2; …). Der Vorhalt muss so konkret sein, dass die beschuldigte Person den gegen sie gerichteten Vorwurf erfassen und sich entsprechend verteidigen kann. Bei Seriendelikten (z.B. gewerbsmässiger Betrug) kann zunächst der Generalvorwurf vorgehalten werden, unterlegt mit zwei oder drei einzelnen, konkreten Fällen. Daraus folgt, dass sich bei vermuteten zahlreichen Delikten bei der ersten Einvernahme die Eröffnung auf einige Straftaten (naheliegenderweise die schwersten) beschränken kann, in der Meinung, dass weitere Delikte bei nachfolgenden Einvernahmen vorgehalten werden (…). Unzulässig wäre es, eine Person unter dem Vorwurf einzuvernehmen, einen Diebstahl begangen zu haben, dabei aber Verdachtsgründe für eine ganz andere Straftat (z.B. ein am angeblichen Diebstahlsort begangenes Tötungsdelikt) zu sammeln (…) [E. 2.3.1].
Das Bundesgericht fand dann aber einen Weg, die Unverwertbarkeit zu umgehen:
Der Beschwerdeführerin konnte kein präziser einzelner Lebenssachverhalt vorgehalten werden, wenn die Strafverfolgungsbehörden nach dem damaligen Verfahrensstand die genaueren Umstände, wie z.B. die Rolle der Beschwerdeführerin, die Anzahl der von ihr ausgeführten Transportdienste oder die Menge der vom Ehemann gelieferten Betäubungsmitteln, noch nicht kannten. Dass dies vorliegend nicht der Fall war, legt die Beschwerdeführerin nicht substanziiert dar und ist nicht ersichtlich. Es ist unbestritten, dass spätestens in der Schlusseinvernahme vom 5. April 2012 der Deliktsvorhalt genügend war. Ihr in der Einvernahme vom 12. Oktober 2011 erstmals abgelegtes Geständnis (…), bestätigte sie in allen späteren Einvernahmen – auch an und nach der Schlusseinvernahme – bzw. machte teilweise präzisierende Angaben (…), letztmals anlässlich der erst- und vorinstanzlichen Hauptverhandlung (…). Es kann somit nicht die Rede davon sein, ihr Geständnis sei auf unzulässige Weise erwirkt worden. Die Frage der Verwertbarkeit von Folgebeweisen stellt sich in diesem Zusammenhang nicht. Nach dem Dargelegten ist der Einwand der Beschwerdeführerin unbehelflich, ihre dritte Einvernahme könne nicht verwertet werden, weil ihr Aussagen aus der ersten unverwertbaren Einvernahme vorgehalten worden seien (…) [E. 2.4].
Die Beschwerdeführerin trug eine ganze Reihe weiterer spannender und an sich erfolgversprechender Rügen vor, drang aber mit keiner druch.
„Sie werden der Körperverletzung beschuldigt“ genügt also nicht als Tatvorhalt zu Beginn der ersten Einvernahme, weil es sich dabei nur um die Nennung des Tatbestands handelt, nicht aber einen Vorhalt der vorgeworfenen Tathandlung, mithin eines Lebenssachverhalts.
Wie ist die Praxis in den Kantonen? Gibt es dazu weitere Entscheide?
Ich kenne keinen Kanton, in dem die Belehrungen den Massstäben dieses BGer-Entscheids genügen würden, obwohl das Damoklesschwert der Unverwertbarkeit über ungenügenden Belehrungen hängt. In der Lehre ist die Belehrungsdichte soweit ich es sehe völlig unbestritten. Aber solange sich die meisten Anwälte mit der Nennung des Tatbestands zufrieden geben, wird sich daran so rasch nichts ändern.
Es ist wohl (ev. ein wenige überspitzt formuliert) eher Zufall, wenn ein Strafverfolger die Anforderungen hinsichtlich Belehrung erfüllt. Soweit ersichtlich gehört es regelmässig zu ihrer Strategie, zunächst mal nichts Konkretes zu sagen – in der Hoffnung, dass der Beschuldigte Delikte nennt, von denen die Strafverfolger nichts wissen und ohne Geständnis auch nie erfahren würden.
Auch wenn vor 10 Jahren aktuell: Bei pol. „Vorladungen“ zu einer „delegierten Einvernahme“ wird (in Bern) regelmässig +/- gar nichts über die / eine vorgeworfene strafbare Handlung konkretisiert. Der Text auf der Vorladung lautet z. B. „Widerhandlungen betr. Strafgesetzbuch“ oder ähnlich. – DAFÜR wird aber der Eingeladene aufgefordert, sämtliche sachdienlichen Unterlagen mitzubringen. … Also bringt der pflichtbewusste Einzuvernehmende alles mit, „was er hat“, um so ev. auch die (allenfalls vorhandenen) sachdienlichen Unterlagen pflichtgemäss bei sich zu haben?