Beweisverwertungsverbot mit Fernwirkung

Das Bundesgericht (BGE 6B_849/2010 vom 14.04.2011) kassiert die Verurteilung eines fehlbaren Automobilisten, welcher nach Vorlage einer belastenden Videoaufnahme ein Geständnis abgelegt hat. Das Video hatte die Polizei auf einer Kamera gefunden, welche ihrem Eigentümer – dem damaligen Beifahrer des Automobilisten – bei einem Volksfest verloren gegangen und in der Folge bei der Polizei als Fundgegenstand abgegeben wurde. Die Polizei wertete die Kamera aus – angeblich um den Eigentümer zu ermitteln – und stiess dabei auf das SVG-Delikt.

Zu klären war vorab, ob das Video verwertet werden durfte, was das Bundesgericht mangels gesetzlicher Grundlage für die Auswertung der Kamera ohne begründeten Anfangsverdacht verneint:

Eine gesetzliche Grundlage, die der Untersuchungsbehörde die Möglichkeit einräumen würde, losgelöst von einem (genügenden) Anfangsverdacht den Speicher einer aufgefundenen Kamera ohne Einwilligung des Berechtigten zu sichten, besteht nicht (vgl. § 90 in Verbindung mit § 85 aStPO/AG; vgl. auch § 4 Abs. 1 lit. b des Dekrets [des Kantons Aargau] vom 6. Dezember 2005 über die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit [SAR 531.210], der als verwaltungspolizeiliche Aufgabe der Gemeinden die blosse Entgegennahme von Fundgegenständen bezeichnet). Ebenso wenig kann mangels schwerer und unmittelbarer Gefahr auf die Polizeigeneralklausel zurückgegriffen werden. Im Ergebnis wurde die Kamera gesichtet, ohne dass hierfür ein Tatverdacht und insbesondere eine gesetzliche Grundlage bestanden hätten (E. 2.3.3).

Das Vorgehen der Polizei, das zur Auffindung des Eigentümers der Kamera ohnehin ungeeignet sei, qualifiziert das Bundesgericht als “fishing expedition”:

Die Polizei hat mithin aufs Geratewohl Daten durchsucht. Ihre Vorgehensweise ist im Ergebnis in einem gewissen Sinne mit einer unzulässigen Beweisausforschung vergleichbar. Von einer solchen Beweisausforschung (“fishing expedition”) spricht man, wenn der Zwangsmassnahme kein genügender dringender Tatverdacht zugrunde lag, sondern planlos Beweisaufnahmen getätigt werden. Die Ergebnisse einer “fishing expedition” sind nicht verwertbar (…) (E.2.3.2).

Das Video wurde im Übrigen nicht als eigentlicher Zufallsfund qualifiziert:

Die fraglichen Aufnahmen wurden nicht im Rahmen einer abzuklärenden Straftat entdeckt, und gegen den Beschwerdeführer oder Drittpersonen bestand in diesem Zusammenhang kein Tatverdacht. Bei den Filmaufnahmen handelt es sich deshalb nicht um eigentliche Zufallsfunde. Solche stammen aus dem rechtmässigen Einsatz strafprozessualer Zwangsmassnahmen, dem namentlich ein genügender Anfangsverdacht zugrunde lag (…) (E. 2.3.2).

Damit war allerdings noch nicht klar, ob die unrechtmässig erlangten Beweise auch einem Verwertungsverbot unterliegen. Dazu muss eine Güterabwägung erfolgen, die i.c. zu folgendem Ergebnis führt:

Insgesamt überwiegt nach der dargelegten Interessenabwägung das private Interesse des Beschwerdeführers, dass der fragliche Beweis unverwertet bleibt, das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung. Ein Abstellen auf die rechtswidrig erlangten Filmaufnahmen hält deshalb vor dem Fairnessgebot nicht stand. Dies führt zu einem Beweisverwertungsverbot (E. 2.3.5.5).

Die Veurteilung des Beschwerdeführers stützte sich aber auf dessen Geständnis. Es muss daher auch die Fernwirkung geprüft werden. Unter Verweis auf seine Rechtsprechung (BGE 133 IV 329 E. 4.5 S. 332 f. mit Hinweisen) klärt das Bundesgericht zunächst die Theorie:

Während verschiedene Autoren für eine Fernwirkung des Verwertungsverbots eintreten, wenden sich andere gegen eine solche umfassende Unverwertbarkeit von Folgebeweisen. So ist nach der zweitgenannten Meinung einzig von der Unverwertbarkeit auszugehen, wenn der ursprüngliche, ungültige Beweis unverzichtbare Voraussetzung des mittelbar erlangten Beweises ist. Das Bundesgericht hat sich für die zweite Lösung ausgesprochen, weil dadurch ein angemessener Ausgleich erzielt wird zwischen den divergierenden Interessen an der Einhaltung der Regeln über die Beweiserhebung und an der Ermittlung der materiellen Wahrheit (E. 2.4.1).

Auf den Fall angewendet führt dies zur Fernwirkung des zuvor festgestellten Verwertungsverbots:

Offensichtlich ist, dass der Beschwerdeführer anlässlich der ersten Einvernahme sich erst auf Vorhalt der Aufnahmen zur Tat bekannte. Dieses Beweismittel, d.h. sein Geständnis vom 1. September 2007, wäre ohne die rechtswidrig beschafften Filmszenen nicht erlangt worden. Dasselbe gilt für die Befragung anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung. Dass diese erst rund zwei Jahre später stattfand, ist nicht wesentlich. Dem Bezirksgericht Brugg lagen im Rahmen der Sachverhaltserstellung sowohl die Filmaufnahmen als auch ein gestützt darauf erstelltes Gutachten des Bundesamts für Metrologie vor. Auf diese (rechtswidrigen) Beweismittel stellte es schwergewichtig ab (…). Der Beschwerdeführer konnte mithin die ihm zur Last gelegte Fahrweise denn auch nicht mit Aussicht auf Erfolg in Abrede stellen. Vielmehr blieb ihm nach seinen zutreffenden Ausführungen einzig zu bestätigen, was bereits durch die Aufnahmen und das Gutachten offenlag. Ob der Beschwerdeführer respektive sein Verteidiger von der Unverwertbarkeit der Beweismittel ausging, ändert daran nichts. Im Übrigen wären die hier interessierenden Verkehrsregelverletzungen ohne die Sichtung der Kamera nicht ans Licht gekommen. Es wäre mithin nicht möglich gewesen, den Beschwerdeführer ohne die Filmszenen als Fahrer zu ermitteln. Die Folgebeweise, welche im Anschluss an die rechtswidrig beschafften primären Beweismittel (die gespeicherten Daten auf der Filmkamera) an sich legal erhoben wurden, sind deshalb nicht verwertbar (E. 2.4.2).