EGMR zum Anwalt der ersten Stunde

Die Dezember-Ausgabe der HRRS 2008 stellt ein Urteil des EGMR gegen die Türkei vor, das auch in der Schweiz auf Interesse stossen müsste (EGMR Nr. 36391/02, Salduz vs. Türkei, Urteil der Grossen Kammer vom 27.11.2008). Die Leitsätze des HRRS-Bearbeiters Karsten Gaede fassen den Entscheid wie folgt zusammen (Hervorhebungen durch mich):

1. Art. 6 EMRK erfordert prinzipiell schon für die erste (polizeiliche) Befragung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren den Beistand eines Verteidigers. Das Recht auf Verteidigerbeistand darf insoweit nur eingeschränkt werden, wenn für den Einzelfall zwingende Gründe vorliegen, die eine solche Einschränkung rechtfertigen. Nur klar bestimmte und zeitlich beschränkte Einschränkungen sind hinzunehmen, was in besonderem Maß für schwere Tatvorwürfe gilt (hier: Terrorismus). 

2. Auch wenn die Einschränkung des Verteidigerbeistands im Ermittlungsverfahren als solche gerechtfertigt ist, darf sie die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte im weiteren Verfahren nicht unverhältnismäßig beeinträchtigen. Prinzipiell werden die Verteidigungsrechte unwiederbringlich beeinträchtigt, wenn belastende Aussagen für eine Verurteilung verwertet werden, die durch eine polizeiliche Vernehmung ohne einen eröffneten Verteidigerbeistand gewonnen worden sind. 

3. Das Recht eines jeden Angeklagten, sich von einem Verteidiger effektiv verteidigen zu lassen, ist eines der fundamentalsten Teilrechte des Rechts auf ein faires Verfahren. Wenn den Vertragsstaaten der EMRK auch ein Ermessen zuzugestehen ist, wie sie dieses Recht umsetzen, so muss doch die Umsetzung stets im Einzelfall konkret und wirksam erfolgen. 

4. Der Beschuldigte befindet sich im Stadium des Ermittlungsverfahrens, das für die Hauptverhandlung sehr bedeutsam ist, oftmals in einer besonders verletzlichen Situation. Diese Situation kann in den meisten Fällen nur angemessen durch den frühen Beistand eines Verteidigers kompensiert werden. 

5. Art. 6 EMRK – insbesondere die sich aus Art. 6 Abs. 3 EMRK ergebenden Rechte – können auch auf das Ermittlungsverfahren anwendbar sein, wenn und soweit die Fairness des Strafverfahrens anderenfalls wahrscheinlich durch ein anfängliches Versäumnis ernsthaft beeinträchtigt werden wird. 

6. Ein Verzicht im Sinne des Art. 6 EMRK ist auch hinsichtlich des Schweigerechts im Ermittlungsverfahren nur wirksam, wenn er eindeutig erklärt wurde und von einem Mindestmaß an prozessualen Schutzinstrumenten begleitet wurde, die seiner Bedeutung entsprechen. Eine unterschriebene Erklärung aus der ersten polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, nach welcher der Beschuldigte nach einer Belehrung über sein Schweigerecht auf dieses verzichte, genügt dem nicht ohne weiteres, wenn dem Beschuldigten zugleich kein Verteidigerbeistand eröffnet war.

Vor allem in Kantonen, in denen das Recht auf den Anwalt der ersten Stunde bis heute nicht anerkannt (oder nicht gelebt) wird, ist das Urteil nach meiner Einschätzung von einiger Brisanz.