Nacktwandern: Die Begründung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht stellt die Begründung des hier bereits erwähnten Nacktwanderer-Entscheids online (BGE 6B_345/2011 vom 17.11.2011). Darin fasst das Bundesgericht seine sehr gründlichen Erwägungen wie folgt zusammen:
Zusammenfassend ergibt sich somit Folgendes. Die Kantone sind gestützt auf Art. 335 Abs. 1 StGB befugt, das Nacktwandern im öffentlichen Raum unter Strafe zu stellen (E. 3 hievor). Eine Norm, welche demjenigen Strafe androht, der “öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt”, ist hinreichend bestimmt (E. 4 hievor). Das Nacktwandern im öffentlichen Raum kann ohne Rücksicht auf die örtlichen Gegebenheiten und die übrigen Umstände willkürfrei als grobe Verletzung von Sitte und Anstand qualifiziert werden (E. 5 hievor). Die Erfüllung des Tatbestands der groben Verletzung von Sitte und Anstand setzt nicht voraus, dass der Nacktwanderer auf einen Menschen trifft, der dadurch in seinem Anstandsgefühl verletzt wird (E. 6 hievor). Die Verurteilung zu einer Busse wegen Nacktwanderns verletzt das Grundrecht der persönlichen Freiheit nicht (E. 7 hievor). Ein Verbotsirrtum lag nicht vor (E. 8 hievor). Die Voraussetzungen für eine Strafbefreiung wegen fehlenden Strafbedürfnisses sind nicht erfüllt (E. 9 hievor) (E. 10).
Die Anforderungen, die das Bundesgericht an das Bestimmheitsgebot stellt, erweisen sich einmal mehr als tief, m.E. als zu tief. Das Bundesgericht rechtfertigt seine Meinung durch Verweis auf andere Strafnormen, deren Bestimmtheit ja nicht bereits deshalb feststeht, weil sie in Gesetzen stehen:
Das Gesetz des Kantons Appenzell A.Rh. über das kantonale Strafrecht (bGS 311; Kant. Strafrecht/AR) stellt nicht ausdrücklich das Nacktwandern oder das Nackt-Sein in der Öffentlichkeit unter Strafe. Es droht in Art. 19 Kant. Strafrecht/AR für “unanständiges Benehmen” Busse an. Nach Art. 19 al. 1 Kant. Strafrecht/AR ist strafbar, wer sich in angetrunkenem oder berauschtem Zustand öffentlich ungebührlich aufführt. Gemäss Art. 19 al. 2 Kant. Strafrecht/AR wird bestraft, wer “in anderer Weise öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt”.
Gleichartige oder ähnliche Strafbestimmungen betreffend Verletzung von Sitte und Anstand sind auch in Übertretungsstrafgesetzen beziehungsweise Einführungsgesetzen anderer Kantone enthalten. Bestraft wird etwa, “wer sich öffentlich ein unanständiges Benehmen zuschulden kommen lässt” (Art. 12 lit. b des bernischen Gesetzes über das kantonale Strafrecht); “wer sich öffentlich ein unanständiges, Sitte und Anstand verletzendes Benehmen zuschulden kommen lässt” (§ 23 Abs. 2 erste Hälfte des solothurnischen Gesetzes über das kantonale Strafrecht); “wer sich öffentlich ein Sitte und Anstand verletzendes Benehmen zuschulden kommen lässt” (Art. 10 des Glarner Gesetzes über die Einführung des Schweizerischen Strafgesetzbuches); “wer sich öffentlich in einer Sitte und Anstand grob verletzenden Weise aufführt” (§ 18 Abs. 2 des Übertretungsstrafgesetzes des Kantons Luzern); “wer durch sein Benehmen in der Öffentlichkeit Sitte und Anstand grob verletzt” (§ 18 Abs. 2 des Schwyzer Gesetzes über das kantonale Strafrecht, ebenso Art. 6 Ziff. 2 des Übertretungsstrafgesetzes des Kantons Nidwalden).
Art. 19 al. 2 Kant. Strafrecht/AR, wonach bestraft wird, wer öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt, ist mit Rücksicht auf die gemäss der vorstehend zitierten Rechtsprechung massgebenden Kriterien hinreichend bestimmt. Aus der Norm ergibt sich klar und unmissverständlich, dass die grobe Verletzung von Sitte und Anstand in der Öffentlichkeit strafbar ist. Eine andere Frage ist, ob das inkriminierte Verhalten überhaupt Sitte und Anstand verletzt und ob eine allfällige Verletzung grob ist. (E. 4.2, Hervorhebung durch mich).
Der letzte Satz des Zitats zeigt m.E. gerade, dass die Norm nicht bestimmt genug sein kann. Aufgabe des Strafrechts ist es u.a., bestimmte gegen “Sitte und Anstand” verstossende Verhaltensweisen zu isolieren und unter Strafe zu stellen.