Neuer Tagebuchentscheid des Bundesgerichts
In einem Strafverfahren wegen Verdachts diverser schwerer Verbrechen wurde eine Hausdurchsuchung angeordnet, bei der das Tagbuch der Lebenspartnerin des Hauptverdächtigen beschlagnahmt und versiegelt wurde. Die Lebenspartnerin, welche gemäss einem Polizeibericht bezüglich verschiedener Vermögensdelikte als Mittäterin verdächtigt wird, wandte sich mit staatsrechtlicher Beschwerde gegen den Entsiegelungsentscheid des Obergerichts des Kantons Luzern erfolglos ans Bundesgericht (1P.519/2006 vom 19.12.2006).
Aus dessen Erwägungen (E. 3.3.3):
Aus den Akten des vorliegenden Verfahrens ergibt sich mit hinreichender Klarheit, dass die umstrittene Beschlagnahme im Zusammenhang mit den vermuteten Tatbeiträgen der Beschwerdeführerin selbst steht. Zweck der Beschlagnahme und Entsiegelung des Tagebuchs ist die Gewinnung von Erkenntnissen über Art und Umfang einer Beteiligung der Beschwerdeführerin an den mutmasslichen Delikten ihres Lebenspartners. Zumindest in Bezug auf den Betrugsvorwurf bestanden bereits vor der Beschlagnahme Anhaltspunkte für einen Tatbeitrag der Beschwerdeführerin, welche in einem Polizeirapport festgehalten wurden und zur Führung einer Untersuchungsakte gegen sie führten. Die weitere Aufklärung einer allfälligen Tatbeteilung der Beschwerdeführerin liegt zweifellos im öffentlichen Interesse. Dieses öffentliche Interesse bezieht sich auch auf mögliche Tatbeiträge bei Delikten ihres Lebenpartners gegen die sexuelle Integrität von Drittpersonen. Dass diesbezüglich noch keine Strafuntersuchung gegen die Beschwerdeführerin eröffnet wurde, ändert daran nichts. Wie das Obergericht zutreffend ausführt, dürfen auch neue Erkenntnisse (Zufallsfunde) gegen die Beschwerdeführerin verwendet werden, wenn dafür die Voraussetzungen einer Beschlagnahme erfüllt sind (Hauser/Schweri/Hartmann, a.a.O., § 69 N. 36 i.V.m. § 71 N. 31; Schmid, a.a.O., N. 725 und 769 ff.; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Auflage, Bern 1999, S. 130).
Zur Interessenabwägung (E. 3.3.4):
Im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung ist zu beachten, dass die Beschwerdeführerin der Beteiligung an einem schweren Vermögensdelikt (Betrug nach Art. 146 StGB) verdächtigt wird. Dem öffentlichen Interesse an der Verbrechensaufklärung stehen die Interessen der Beschwerdeführerin am Schutz ihrer Privatsphäre gegenüber (s. E. 3.3.2 hiervor). Diese Interessen haben angesichts der geltend gemachten persönlichen Konflikt- und Belastungssituation sowie des höchstpersönlichen Charakters der Tagebucheinträge einen hohen Stellenwert. Indessen überwiegt bei der Schwere der hier verfolgten Delikte das öffentliche Interesse an der Verbrechensaufklärung. Die Beschwerdeführerin steht nach den in den Akten festgehaltenen Zeugenaussagen im Verdacht, bei der betrügerischen Aufnahme von Darlehen aktiv mitgewirkt zu haben. Es handelt sich dabei um ein Verbrechen, bei welchem freundschaftliche Beziehungen zum Geschädigten in arglistiger Weise ausgenützt worden sein sollen. Vor diesem Hintergrund kann der Schutz der Privatsphäre der Beschwerdeführerin nicht höher als das Interesse an der Strafverfolgung gewichtet werden. Der angefochtene Entscheid ist in dieser Hinsicht somit im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Zur Verhältnismässigkeit (E. 3.3.5):
Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit erscheint die Beschlagnahme des Tagebuchs geeignet und erforderlich, um die Tatbeiträge der Beschwerdeführerin abzuklären. Auch wenn ein Tagebuch, wie die Beschwerdeführerin zutreffend darlegt, nicht ohne weiteres einen hohen Beweiswert aufweist, ist hier doch zu erwarten, dass sich daraus wichtige Erkenntnisse über ihr strafrechtlich relevantes Verhalten ergeben. Dabei müssten auch entlastende Elemente mitberücksichtigt werden. Eine mildere Massnahme als die vom Obergericht angeordnete Entsiegelung des Tagebuchs besteht zur Erreichung des angestrebten Zwecks nicht. Das Obergericht hat den Amtsstatthalter in E. 7.2 des angefochtenen Entscheids dazu verpflichtet, die geeigneten Massnahmen zu ergreifen, um das Geheimhaltungsinteresse bzw. den Persönlichkeitsschutz der Beschwerdeführerin möglichst zu wahren, indem zum Beispiel nur die erheblichen Passagen kopiert werden und ihr das Tagebuch sodann zurückgegeben wird. Damit erweist sich die umstrittene Beschlagnahme und Entsiegelung des Tagebuchs als verhältnismässig. Von einer Antastung des Kernbereichs der persönlichen Freiheit oder der Privatsphäre der Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 36 Abs. 4 BV kann im Übrigen keine Rede sein (vgl. Bommer/Goldschmid, a.a.O., S. 366). Ebenso wenig liegt eine unzulässige Beweisausforschung (fishing expedition) vor, da die Öffnung des Tagebuchs im Rahmen einer Strafuntersuchung gegen die Beschwerdeführerin mit hinreichendem Tatverdacht erfolgt (vgl. Schmid, a.a.O., N. 725).
Dass das Bundesgericht das überwiegende öffentliche Interesse und die Verhältnismässigkeit als gewahrt qualifizierte, überrascht nicht. Es ist kaum ein Fall denkbar, bei dem das Bundesgericht (oder irgend ein anderes Gericht in der Schweiz) anders entscheiden würde.
Schade ist, dass sich das Bundesgericht nicht eingehender mit der Frage auseinander gesetzt hat, ob es nicht einen absolut geschützten innersten Bereich des Persönlichkeitsrechts geben müsse, der ein Beschlagnahmeprivileg nach sich zieht (vgl. dazu etwa BVerfG 80, 367, wo im konkreten Fall bei Mord die Frage mit 4 zu 4 Richterstimmen beantwortet bzw. eben nicht beantwortet wurde). Das Bundesgericht begnügt sich im vorliegenden Fall mit der Feststellung, dass im vorliegenden Fall von einer Antastung des Kernbereichs der persönlichen Freiheit oder der Privatsphäre der Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 36 Abs. 4 BV keine Rede sein könne. Diese Begründung erscheint mir allzu dünn, auch wenn dazu eine Literaturquelle (ZBJV 1997, 366) angegeben wird, die aber bei genauerer Prüfung wohl nicht als einschlägig gelten kann.
Das wäre in der Tat interessant gewesen. Anders als in gewissen anderen Ländern ist das vorliegen einer komplexen Grundsatzfrage für das BGer oftmals eher ein Grund, deren vorliegen dann doch wieder überhaupt zu verneinen, als zu juristischen Höhenflügen anzusetzen. Ähnliches hat man ja bei der Frage der Strafbarkeit pflichtwidrigen Verhaltens nach Verkehrsunfall im Verhältnis zum Verbot des Selbstbelastungszwangs beobachtet.
Persönlich neige ich dazu, Tagebucheinträge nie dem Kernbereich des Persönlichkeitsrechts zuzuordnen. Wer etwas auf diese Weise schriftlich festhält, der verzichtet m.E. stillschweigend auf einen allfälligen zusammenhang zum Kerngehalt seines Persönlichkeitsrechts. Das Tagebuch ist eine Art ‚Publikation‘ oder Platzierung aus dem Kern-Intimbereich der eigenen inneren Gedankenwelt in die physische und damit auch Dritten grundsätzlich ohne weiteres zugängliche Form. Dieser Bereich kann m.E. nicht mehr vom Kernbereich erfasst sein, genausowenig wie ein Verbindungsnachweis der Telefongesellschaft (der etwa Auskunft über das Sozialverhalten und die Kontakte geben kann) oder eine Sammlung erotischer Videos oder dergleichen. Ähnliches sagt im übrigen auch das BVerfG im zitierten Entscheid:
„Die Aufzeichnungen gehören nicht dem absolut geschützten Bereich persönlicher Lebensgestaltung an. Eine solche Zuordnung ist schon deshalb in Frage gestellt, weil der Beschwerdeführer seine Gedanken schriftlich niedergelegt hat. Er hat sie damit aus dem von ihm beherrschbaren Innenbereich entlassen und der Gefahr eines Zugriffs preisgegeben (vgl. Forsthoff, Der Persönlichkeitsschutz im Verwaltungsrecht, in: Festschrift zum 45. Deutschen Juristentag [1964], S. 41 [43]).“
Es bliebe somit aus meiner Sicht bei der allgemeinen Güter- und Interessenabwägung, wenn auch mit wohl in der Regel voraussehbarem Ausgang. Immerhin kann deren schriftliche Ausformulierung durch die Strafverfolgungsbehörde und damit auch deren Prüfung über das Siegelungsverfahren erzwungen werden.
Vielen Dank für den Kommentar. Dem Kerngehalt der persönlichen Freiheit oder der informationellen Selbstnestimmung gehört der Tagebucheintrag vielleicht nicht an. Ich bin trotzdem der Meinung, dass er beschlagnahmefrei sein muss. Das Festhalten eines eigenen Gedankens erhöht natürlich faktisch das Risiko, dass der Gedanke öffentlich wird. Dieses Risiko in Kauf zu nehmen, kann doch aber keinen Verzicht auf den Schutz darstellen. Was ich meinem Anwalt oder meinem Pfarrer anvertraue, erhöht auch das Risiko, dass es bekannt wird. Trotzdem ist es absolut geschützt. Ich sehe nicht, wieso das bei meinem Tagebuch anders sein soll.