Rückzugsempfehlung kann Ausstandspflicht begründen

In einem zur BGE-Publikation vorgesehenen Urteil (BGer 1B_242/2007 vom 28.04.2008) setzt das Bundesgericht einer ärgerlichen Praxis etlicher Rechtsmittelbehörden eine hoch willkommene Grenze. Worum es dabei geht, zeigt das Zitat aus der Sachverhaltsdarstellung des Bundesgerichts:

Die I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich führte am 20. August 2007 die Berufungsverhandlung durch. Eingangs stellte A. gegen Oberrichter Rolf Naef wegen Befangenheit resp. Anscheins der Befangenheit ein Ausstandsgesuch. Hintergrund des Ersuchens bildete der Umstand, dass Oberrichter Naef als Referent in der Berufungssache mit dem Rechtsvertreter des Beschuldigten anfangs Juli 2007 Kontakt aufgenommen und ihm mitgeteilt hatte, dass er gestützt auf die Akten wohl einen Antrag auf Abweisung der Berufung stellen werde. Durch dieses Vorgehen habe Oberrichter Naef den Anschein der Voreingenommenheit erweckt. Oberrichter Naef gab die gewissenhafte Erklärung im Sinne von § 100 Abs. 1 GVG ab, in der Sache nicht befangen zu sein.
Das Bundesgericht begründet sein Urteil differenziert und betont, dass auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen ist. Entscheidend im beurteilten Fall war, dass die Initiative von einem Mitglied des Gerichts ausging (was ja wohl immer der Fall ist). Die unter die Lupe genommene Praxis der implizierten Rückzugsempfehlung erwecke beim Betroffenen den Eindruck, das Gericht wolle kurzen Prozess mit ihm machen: Dass ein Anwalt eine solche Rückzugsempfehlung aufgrund seiner Erfahrung durchaus richtig einordnen könne, genügt dem Bundesgericht völig zu Recht nicht:
Entscheidendes Gewicht kommt dem Umstand zu, dass die Initiative zur entsprechenden Mitteilung vom Referenten ausgegangen ist; es war dieser, der mit dem Rechtsvertreter telefonisch Kontakt aufnahm und ihm seine vorläufige Einschätzung zum Ausdruck brachte. Die Kontaktaufnahme von Seiten des Gerichts ist geeignet, Missverständnisse hervorzurufen. Wie dargetan, wird die betroffene Partei selber die vorläufige Einschätzung kaum richtig einordnen können. Auch wenn der Rechtsvertreter angesichts seiner Kenntnisse des gerichtlichen Verfahrens die verfahrensrechtliche Bedeutung der Mitteilung des Referenten an sich richtig einzuschätzen weiss, erweckt dessen Vorgehen für die Partei den Eindruck, dass das Gericht sie nicht hören, ihre Berufungssache gar nicht prüfen wolle, und hinterlässt ein Gefühl der Verunsicherung, ob die Berufung nun zurückzuziehen sei oder an ihr festgehalten werden könne und die Berufungsverhandlung durchgeführt werden solle. Das Vertrauen in das Justizverfahren kann beeinträchtigt werden, wenn im Vorfeld der Verhandlung seitens des Gerichts in provisorischer Weise die Aussichtslosigkeit signalisiert wird. Mit dem Einlegen der Berufung erwartet die Partei, dass das Gericht in seiner ordentlichen Besetzung und im ordentlichen Verfahren ihre Sache urteilsmässig neu beurteilt. Das Zürcher Berufungsverfahren in Strafsachen zeichnet sich darüber hinaus durch ein besonderes Gewicht der Berufungsverhandlung aus; die Berufung wird im Wesentlichen nur angemeldet und es wurde ihr im vorliegenden Fall eine sehr kurz gehaltene Beanstandung beigegeben (vgl. § 414 StPO/ZH). Mit der aktiven Mitteilung der vorläufigen Einschätzung von Seiten des Referenten schon im Voraus wird der Eindruck erweckt, dass sich dieser – trotz der genannten Vorbehalte – bereits eine abschliessende Meinung gebildet habe und das Verfahren – auch unter Beachtung der noch bevorstehenden Berufungsverhandlung – nicht mehr offen, der Prozess somit bereits verloren sei. Der Betroffene wird nicht ohne weiteres verstehen, dass die Mitteilung des Referenten – nach durchgeführtem Verfahren vor erster Instanz – möglicherweise auf eine Ersparnis an Aufwand und Kosten im Rechtsmittelverfahren abzielt. Vielmehr bekommt er den Eindruck, dass die Berufungssache in rascher Weise erledigt werden soll, “kurzer Prozess” gemacht wird. Bei dieser Sachlage erweckt der den Kontakt mit dem Rechtsvertreter aufnehmende Referent den Anschein, in der Sache nicht mehr offen und daher voreingenommen zu sein. Die Partei kann mit Grund befürchten, der Referent unterziehe seine geäusserte Auffassung anlässlich der Verhandlung und Beratung nicht mehr einer unvoreingenommenen Prüfung. Daran vermag der Einwand, es solle tatsächlich vorkommen, dass der Referent – soweit trotz entsprechender Mitteilung an der Berufung festgehalten wird – nach durchgeführter Verhandlung auf seine vorläufige Einschätzung zurückkommt, unter dem Gesichtswinkel des blossen Anscheins der Voreingenommenheit nichts zu ändern. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der Referent mit seiner Kontaktaufnahme und der Mitteilung tatsächlich den Anschein der Voreingenommenheit erweckt hat. Dieser Eindruck beruht nicht nur auf einem individuellen Empfinden des Betroffenen. Vielmehr erscheint das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit des Richters aus objektiver Sicht als begründet (E. 2.6).
Besonders erfreulich ist, dass sich das Bundesgericht in die Gefühlswelt des Beschuldigten hinein versetzt und dabei den Nagel auf den Kopf trifft. Meine Erfahrung zeigt, dass das Misstrauen gegenüber der Unabhängigkeit der Justiz und gegenüber den oft als unsachlich empfundenen Verfahren bei sehr vielen Laien erheblich ist. Dessen sind sich (zu) viele Richter ganz offensichtlich zu wenig bewusst. Das neue Urteil ist geeignet, das Vertrauen in die Justiz und damit auch die Akzeptanz ihrer Rechtssprüche zu steigern.