Überwachung: Ein weiterer Coup des Bundesgerichts

Nach Art. 273 StPO kann die Staatsanwaltschaft bei den Providern Randdaten erheben. Die entsprechenden Auskünfte können “unabhängig von der Dauer der Überwachung und bis 6 Monate rückwirkend verlangt werden.” Das ZMG des Kantons Aargau hat nun naiverweise das Gesetz gelesen und einer  rückwirkenden Teilnehmeridentifikation eines Internetanschlusses (IP-Adresse) für einen Zeitraum verweigert, der vor über sechs Monaten endete. Das Bundesgericht ist weniger zimperlich und setzt sich einmal mehr über den klaren Wortlaut des Gesetzes hinweg.

Es macht sich nicht einmal die Mühe, das schlüssig zu begründen, sondern weist die dazu bestehenden Lehrmeinungen zurück und wendet Verwaltungsrecht (Art. 14 Abs. 4 BÜPF) als “lex specialis” zum Strafprozessrecht an. Wieso diese Bestimmung “lex specialis” zu Art. 273 StPO sein soll, erwähnt das Bundesgericht mit keinem Wort (BGE 1B_481/1012 vom 22.01.2013, AS-Publikation vorgesehen):

Beide [in der Lehre vertretenen] Auffassungen dürften so nicht zutreffen. Vielmehr dürfte Art. 273 Abs. 3 StPO dahin auszulegen sein, dass diese Bestimmung (unter den Voraussetzungen von Art. 273 Abs. 1 StPO) in jedem Fall und ohne weitere Begründung die rückwirkende Erhebung bis 6 Monate erlaubt und, wenn es besondere Gründe rechtfertigen, auch für einen längeren Zeitraum (tendenziell ebenso HANSJAKOB, Zürcher Kommentar StPO, N. 14 zu Art. 273 StPO, der die Frist von 6 Monaten “bei gewissen Konstellationen” nicht streng handhaben will). Wie es sich damit verhält, braucht hier jedoch nicht vertieft zu werden. Nach dem Gesagten geht es um eine über das Internet begangene Straftat. Insoweit kommt Art. 14 Abs. 4 BÜPF zur Anwendung. Diese Bestimmung geht Art. 273 Abs. 3 StPO als “lex specialis” vor. Art. 14 Abs. 4 BÜPF sieht keine zeitliche Befristung für die rückwirkende Erhebung von Daten vor. Die von der Beschwerdeführerin am 13. August 2012 verfügte rückwirkende Teilnehmeridentifikation ist daher zulässig. Dass sich die Beschwerdeführerin nicht auf Art. 14 Abs. 4 BÜPF beruft, ist belanglos, da das Bundesgericht das Recht von Amtes wegen anwendet (Art. 106 Abs. 1 BGG) [E. 4.8].

Das Bundesgericht zitiert übrigens auch aus den Materialien. Die entscheidende Stelle in der Botschaft lässt es allerdings unerwähnt:

Absatz 3 behält die bisherige Regelung von Artikel 5 Absatz 2 BÜPF bei, wonach die Auskünfte bis sechs Monate rückwirkend verlangt werden können. Diese Dauer wird unter Umständen zu erhöhen sein, je nach dem Ergebnis der Behandlung des Postulates 05.3006 der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerates vom 21. Februar 2005 («Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen»). Dieses verlangt die Prüfung, ob die Aufbewahrungsdauer von sechs Monaten für Telefongesprächsdaten verlängert werden könnte.

Der Bundesrat hatte damals wohl noch nicht geahnt, dass es heute nicht die eidg. Räte sind, welche gesetzliche Fristen verlängern, sondern das Bundesgericht. Aber zugegeben, das Bundesgericht dürfte für diesen Entscheid den Applaus des politischen Mainstreams ernten.