Untersuchungsgeheimnis als zentrales Instrument der Wahrheitsfindung

Am 4. Dezember 2014 hat Daniel Gerny in der NZZ darauf hingewiesen, dass die Staatsanwälte einmal mehr den Wunsch geäussert haben, die StPO zu ändern. Dies hatten sie (bzw. die KSBS bzw. die SSK) mit Medienmitteilung vom 21. November 2014 kommuniziert. Der Wunsch der Staatsanwälte ist der Politik Befehl. Bereits hat sich jedenfalls ein Volksvertreter gefunden, der den Wunsch in einen politischen Vorstoss umgegossen hat. Darin wird verlangt, dass Art. 147 Abs. 4 StPO wie folgt geändert wird:

Aussagen zulasten einer Partei sind verwertbar, wenn diese wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, ihr Fragerecht auszuüben.

Diese Forderung nährt den Verdacht, dass der Initiant die aktuelle Rechtslage nicht kennt. Liest man die Begründung des Vorstosses, fragt man sich sogar, was den Initianten qualifiziert, in der RK-N zu sitzen (ok, ich ziehe die Frage zurück). Hier aber die Begründung mit meinen Klammerbemerkungen:

In der Praxis häufen sich die Fälle, in welchen mehrere Mitbeschuldigte beteiligt sind [das stimmt und liegt daran, dass die heutige Jugend nur noch ausnahmsweise alleine kifft]. Ein zentrales Element zur Wahrheitsfindung stellen dabei die Einvernahmen der einzelnen Beteiligten dar [auch das stimmt, denn Beschuldigte orientieren sich an der Wahrheit, besonders wenn sie in Untersuchungshaft sitzen]. Durch die getrennten Einvernahmen der Beteiligten lassen sich Widersprüche und falsche Aussagen aufklären [Widersprüche sind zwar nicht das, was primär gesucht wird. Sie ermöglichen aber, den Beschuldigten die Glaubwürdigkeit abzusprechen, womit sie leichter verurteilt und der gerechten Strafe zugeführt werden können]. Die heute durch die StPO geforderte Gewährung eines uneingeschränkten Teilnahmerechts bereits zu Beginn eines Verfahrens, wenn es insbesondere darum geht, den Sachverhalt zu ermitteln, erschwert die Ermittlung der materiellen Wahrheit enorm, ja verunmöglicht dies bisweilen [das bezweifle ich, aber die Strafbehörden haben ja längst Wege und Mittel gefunden, die Teilnahmerechte auszuschliessen]. Die aktuelle Regelung läuft dem zentralen Postulat des Strafprozessrechts, d. h. der Wahrheitsfindung zuwider, denn die beteiligten beschuldigten Personen können ihre Aussagen problemlos aufeinander abstimmen [das ist v.a. deshalb unerwünscht, weil Absprachen Widersprüche reduzieren; s. oben]. Zudem ist aus der Aussagepsychologie bekannt, dass bereits die Anwesenheit einer weiteren Person das Aussageverhalten beeinflusst [ausser natürlich die Anwesenheit von Strafverfolgern, welche die Wahrheitsfindung fördert]. Darüber hinaus ist ebenfalls davon auszugehen, dass diejenige Person, welche als erste aussagen muss, benachteiligt ist, da sie im Gegensatz zu den nachfolgend zu Befragenden nicht weiss, was diese aussagen werden [Autsch!]. Ein Geständnis der erstaussagenden Person ist weiter eher unwahrscheinlich, wenn ein Mittäter bei der Befragung anwesend ist [das gilt insbesondere, wenn erstaussagende Person und Mittäter schuldig sind].

Der Gesetzgeber beauftragt in Artikel 6 StPO die Staatsanwaltschaft nach wie vor mit der Pflicht zur Erforschung der sogenannten materiellen Wahrheit [wo steht das? in Art. 6?]. Die Auslegung der heute gesetzlich geregelten Teilnahmerechte durch das Bundesgericht erschwert oder verunmöglicht zuweilen diese Wahrheitssuche durch die Strafverfolgungsbehörden und steht somit in einem klaren Widerspruch zu Artikel 6 StPO [das kann nur sagen, wer die Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht kennt]. Diese Unstimmigkeit [die Rechtsprechung?] kommt noch stärker im Rahmen des sogenannten Haftrechts [nicht zu verwechseln mit dem Haftpflichtrecht], beim Haftgrund der Kollusionsgefahr zum Ausdruck. Das Gesetz bestimmt in Artikel 221 Absatz 1 Buchstabe b StPO, dass eine beschuldigte Person, die eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist, und ernsthaft zu befürchten sei, dass sie Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen, in Untersuchungshaft genommen werden kann [so ähnlich steht es da tatsächlich]. Durch die Teilnahme aller Mitbeschuldigten an allen Einvernahmen und durch das Gewähren des Akteneinsichtsrechts für alle Parteien kann das Untersuchungsgeheimnis, welches als zentrales Element der Wahrheitsfindung zu Beginn des Vorverfahrens zwingend aufrechtzuerhalten ist [deshalb war die Inquisition derart effizient], nicht geschützt werden, was der materiellen Wahrheitsfindung entgegenläuft und den Sinn und Zweck eines Strafverfahrens aushöhlt [genau! wenn schon die Untersuchungshaft nichts mehr nützt, dann können wir das Strafrecht gleich lassen].

Der Initiant hat eigentlich nur eines verdient, dass nämlich das Bundesgericht bis zur geforderten Gesetzesänderung genau das macht, was ihm vorgeworfen wird: die Teilnahmerechte ohne jede Umgehungsmöglichkeit zu zementieren. Das jedenfalls scheint die Meinung des Gesetzgebers de lege lata ja zu sein.