Untersuchungshaft – neu auch mittels Superprovisorium

Mit einem neuen Entscheid des Bundesgerichts (BGE 1B_232/2011 vom 12.07.2011; Publikation in der AS vorgesehen) wird das Haftrecht um eine weitere Facette “reicher”. Das Bundesgericht heisst eine Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft gut, die sich erfolglos gegen eine Haftentlassung gewehrt hatten. Das Kantonsgericht trat auf eine erste Beschwerde der Staatsanwaltschaft nicht ein, weil der angefochtene ZMG-Entscheid noch nicht begründet war. Eine weitere Beschwerde führte sie sodann gegen den begründeten Entscheid und ersuchte im Sinne einer vorsorglichen Massnahme um Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft bis zum Entscheid des Kantonsgerichts. Letzteres schrieb die zweite Beschwerde als gegenstandslos ab, weil der Betroffene bereits aus der Haft entlassen war.

Das Bundesgericht tritt auf eine Beschwerde trotz fehlenden aktuellen Rechtsschutzinteresses der Staatsanwaltschaft ein. Das angebliche Problem einer unverzüglichen Haftentlassung liegt in Art. 226 Abs. 5 StPO, den es zu umgehen gilt. Das Bundesgericht umschreibt das Problem wie folgt:

Würde die beschuldigte Person jedoch unmittelbar im Anschluss an den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts trotz des Bestehens von Haftgründen auf freien Fuss gesetzt, so würde damit die Fortführung des Strafverfahrens unter Umständen erheblich beeinträchtigt (E. 2.2).

Zugegeben, auch Zwangsmassnahmerichter sind nicht unfehlbar. Dass aber eine Entlassung verfügt wird, obwohl noch Haftgründe bestehen, dürfte doch eher die äusserst seltene Ausnahme darstellen. Das Bundesgericht will aber trotzdem eine superprovisorische Haftanordnung durch die Beschwerdeinstanz schaffen und damit ein Problem lösen, das keines ist (bzw. nur zum Problem wurde, weil man den Strafverfolgungsbehörden Beschwerderechte eingeräumt hat).

Liegen zwischen dem Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts und dem Zeitpunkt der Haftentlassung wie im vorliegenden Fall mehrere Stunden oder Tage, so erscheint es bei unverzüglicher Einreichung der Beschwerde durch die Staatsanwaltschaft möglich, dass die Beschwerdeinstanz noch vor der Entlassung des Beschuldigten vorsorglich die Fortführung der Haft anordnet. Eine solche “superprovisorische” Haftanordnung durch die Beschwerdeinstanz gestützt auf Art. 388 lit. b StPO setzt voraus, dass die Staatsanwaltschaft die Beschwerdefrist gemäss Art. 396 StPO nicht ausschöpft, sondern die Beschwerde unmittelbar nach Kenntnis des Haftentlassungsentscheids einreicht und zumindest vorläufig aber dennoch rechtsgenügend begründet (Art. 384 i.V.m. Art. 396 Abs. 1 StPO). Zudem darf sich die Staatsanwaltschaft nicht auf einen Antrag um aufschiebende Wirkung (Art. 387 StPO) beschränken. Vielmehr muss sie in der Regel ausdrücklich die Anordnung der Haft durch die Beschwerdeinstanz beantragen. Diesen nach Art. 388 lit. b StPO zulässigen Antrag hat die Verfahrensleitung der Beschwerdeinstanz superprovisorisch, d.h. ohne vorherige Anhörung der beschuldigten Person zu behandeln, wenn dies zum Schutz des Untersuchungszwecks notwendig ist. Ein Verzicht auf die vorherige Anhörung erscheint indessen nur bei hoher Dringlichkeit eines superprovisorischen Haftentscheids gerechtfertigt. Anschliessend an eine solche vorsorgliche Haftanordnung muss der beschuldigten Person in jedem Fall das rechtliche Gehör gewährt werden (Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO; Art. 29 Abs. 2 BV). Nach dieser Gehörswahrung hat die Verfahrensleitung der Beschwerdeinstanz unverzüglich in Anwendung von Art. 388 lit. b StPO einen neuen vorsorglichen Entscheid über die Untersuchungshaft zu treffen, wenn die Haftsache vor der Beschwerdeinstanz noch nicht entscheidungsreif ist (E. 2.2.1).

In der Folge diskutiert das Bundesgericht die analoge Anwendung von Art. 231 Abs. 2 StPO und verwirft diese. Anschliessend wird als weitere Möglichkeiten eine Schutzschrift (!) diskutiert und ebenfalls verworfen. Ob die Staatsanwaltschaft einfach einen neuen Haftbefehl erlassen kann, lässt das Bundesgericht leider offen (E. 2.2.4).

Im Ergebnis wirft das Bundesgericht der Vorinstanz vor, zu Unrecht auf die erste Beschwerde nicht eingetreten zu sein und der Staatsanwaltschaft damit eine zweite Beschwerde “aufgenötigt” zu haben:

Die Staatsanwaltschaft hatte die Verfügung der Einzelrichterin des Zwangsmassnahmengerichts vom 18. April 2011, mit der die umstrittene Freilassung des Angeschuldigten auf den 22. April 2011, 17.00 Uhr, festgesetzt worden war, am 19. April 2011, mithin drei Tage vor dem vorgesehenen Freilassungstermin mit Beschwerde angefochten. Es bestand somit genügend Zeit zur Prüfung der Beschwerde. Der Kantonsgerichtspräsident trat jedoch auf die Beschwerde nicht ein, weil die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts noch nicht begründet war. Rechtsmittelfristen beginnen grundsätzlich erst mit der vollständigen Ausfertigung eines Entscheids zu laufen. Dies bedeutet indessen nicht, dass eine bereits gegen das Dispositiv eines Entscheids erhobene Beschwerde unzulässig ist. Das Vorgehen des Kantonsgerichtspräsidenten hatte zur Folge, dass die Staatsanwaltschaft mit der Beschwerde und dem Gesuch um Anordnung vorsorglicher Massnahmen bis zum Vorliegen der Begründung zuwarten musste und sich dadurch erst gut 24 Stunden vor dem Freilassungstermin in der Lage sah, die zweite Beschwerde zu erheben. Den Kantonsgerichtspräsidenten hätte nichts daran gehindert, bereits nach dem Vorliegen der ersten Beschwerde das mit dieser eingereichte Gesuch um Anordnung vorsorglicher Massnahmen nach Beschaffung der Akten unverzüglich zu behandeln. Nach Vorliegen der Begründung hätte er die am 19. April 2011 eingereichte Beschwerde noch vor dem Freilassungstermin beurteilen und einen Entscheid fällen können, statt der Staatsanwaltschaft mit dem Nichteintreten auf die erste Beschwerde eine zweite Beschwerde aufzunötigen, deren Gegenstandslosigkeit bzw. Nichtbehandlung wegen der bevorstehenden Freilassung absehbar war. Mit dieser Art des Vorgehens hat der Kantonsgerichtspräsident verhindert, dass vor der umstrittenen Freilassung des Beschuldigten ein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid erging, obwohl dazu, wenn auch wenig, letztlich doch genügend Zeit zur Verfügung stand. Die Beschwerde ist somit im Sinne der Erwägungen gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist (E. 2.3).

Die Beschwerde wurde demnach gutgeheissen und der Beschuldigte bleibt auf freiem Fuss. In Zukunft werden wir aber wohl mit superprovisorischen Freiheitsentzügen zu rechnen haben. Anders als im Zivilrecht wenden sich diese superprovisorischen Verfügungen gegen Gerichtsurteile, was deren Stellenwert nicht gerade stärkt. Dabei wäre doch der Wortlaut des Gesetzes (Art. 226 Abs. 5 StPO) glasklar:

Ordnet es [das ZMG] die Untersuchungshaft nicht an, so wird die beschuldigte Person unverzüglich freigelassen.