Verkehrt vorgegangen
In einem wichtigen Entscheid kassiert das Bundesgericht ein Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau, das auf eine Beschwerde gegen eine Abtrennungsverfügung bundesrechtswidrig nicht eingetreten war (BGer 1B_187/2015 vom 06.10.2015). Um die Bedeutung des Entscheids zu erfassen, muss man sich allerdings auf den Kern beschränken, zu dem das Bundesgericht erst nach aufwändigen und nicht immer leicht verständlichen Erwägungen vorstösst, die zudem sprachlich weitgehend misslungen sind. Hier aber der Kern:
In einem Verfahren wegen vorsätzlicher Tötung gegen mehrere Beschuldigte, die sich gegenseitig belasteten, kam die Staatsanwaltschaft auf die glorreiche Idee, einem Beschuldigten das abgekürzte Verfahren zu bewilligen und dieses Verfahren abzutrennen. Das abgetrennte abgekürzte Verfahren endete mit der Höchststrafe nach Art. 358 Abs. 2 StPO wegen Gehilfenschaft (5 Jahre). Für den Beschwerdeführer blieb damit faktisch nur noch die Tötung selbst (Antrag der Staatsanwaltschaft 15.5 Jahre).
Das Urteil im abgekürzten Verfahren erging, ohne den Ausgang der Beschwerde gegen die Verfahrenstrennung abzuwarten. Diese erweist sich nun aber als bundesrechtswidrig:
Die Staatsanwaltschaft ist verkehrt vorgegangen. Sie hat zunächst die Voraussetzungen des abgekürzten Verfahrens gegen B. nach Art. 358 ff. StPO geprüft und ist zum Schluss gekommen, da diese erfüllt seien, sei das Verfahren abzutrennen. Richtigerweise hätte sie zuerst prüfen müssen, ob die Verfahrenstrennung in einem Fall wie hier, wo sich die Beschuldigten gegenseitig belasten, im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung überhaupt in Frage kommt. Verneinendenfalls hätte sich die Frage des abgekürzten Verfahrens erübrigt (E. 2.8).
Die Sache geht nun zurück ans Obergericht. Was es damit machen wird, ist mir allerdings schleierhaft. Das Urteil ist jedenfalls trotz der sprachlichen Unzulänglichkeiten äusserst lesenswert, etwa wo es zum Schluss kommt, die Abtrennung sei eine Zuständigkeitsfrage.
Nach der Gesetzessystematik betrifft die Verfahrenstrennung somit die Zuständigkeit. Das dürfte auch hier zutreffen (E. 1.5.2).
Diesen Umweg machte das Bundesgericht, um überhaupt eintreten zu können (Art. 92 BGG). Es liess die Frage dann aber doch offen und erkannte auf einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil. Hard cases make bad law.
Zitieren für künftige Beschwerdeschriften kann ich auch folgende Erwägung:
B. belastet insbesondere den Beschwerdeführer. Die Staatsanwaltschaft beantragt gegen Letzteren eine Freiheitsstrafe von 15 ½ Jahren. Das Urteil gegen B. ist in Rechtskraft erwachsen. Welcher Beschuldigte welchen Tatbeitrag geleistet hat, ist jedoch unklar. Die Beschuldigten belasten sich gegenseitig. Mit dem rechtskräftigen Urteil gegen B. besteht für den Beschwerdeführer die Gefahr, dass die Sache zu seinem Nachteil gewissermassen “vorgespurt” ist. Sollte das Bezirksgericht im ordentlichen Verfahren den belastenden Aussagen von B. nicht folgen und käme es zum Schluss, nicht dieser, sondern der Beschwerdeführer habe eine untergeordnete Rolle gespielt, setzte es sich mit dem rechtskräftigen Urteil in Sachen B. in Widerspruch. Einen solchen Widerspruch wird kein Gericht gerne hinnehmen. Schon insofern droht dem Beschwerdeführer ein nicht wieder gutzumachender Nachteil. Hinzu kommt, dass B., da das Verfahren gegen ihn rechtskräftig abgeschlossen ist, im Verfahren gegen den Beschwerdeführer als Zeuge befragt werden könnte (…). Als solcher wäre er zur Aussage verpflichtet und träfe ihn eine durch eine Strafdrohung gesicherte Wahrheitspflicht (Art. 163 Abs. 2 StPO; Art. 307 StGB). Seinen belastenden Aussagen käme somit ein erhöhtes Gewicht zu. Das gälte auch im Rechtsmittelverfahren. Diese dem Beschwerdeführer drohenden Nachteile sind nicht nur tatsächlicher Natur. Die Beschwerde ist daher gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zulässig (E. 1.5.3).
Vor lauter Staunen könnte man glatt übersehen, dass das Urteil zumindest im Ergebnis völlig richtig ist. Die Bedenken gegen abgetrennte Verfahren hat es bei ähnlicher Problemstellung (Strafbefehle gegen Mitbeschuldigte, Anklage nur gegen einen Mitbeschuldigten) nicht gehabt.
Wäre B. im Verfahren gegen den Beschwerdeführer gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung (6B_1039/2014/2014 E. 2.4.1) nicht als Auskunftsperson anstatt als Zeuge einzuvernehmen?
Woher soll die erste OEFFRA wissen, was die Strafrechtliche entscheidet? Aber danke für den Hinweis, das war mir nicht mehr bewusst und entspricht nicht der mir bekannten Praxis. Muss dem mal nachgehen.
War der Verteidiger, der sich gegen die Abtrennung eines von mehreren, der gleichen Tat beschuldigten Personen gewehrt hat, was BGE 138 IV 29 verbietet. Eine solche Abtrennung akzeptieren, hiesse, eine Vor-Verurteilung der anderen Beschuldigten zu schlucken. Die “gloriose Idee” der Abtrennung, dürfte sich vorliegend wie folgt erklären: Der Mitbeschuldigte, der gnädigerweise ins abgekürzte Verfahren kam und extra mild bloss als Gehilfe angeklagt wurde, hat der Staatsanwaltschaft die (zweifelhaften) Belastungen gegen andere Mitbeschuldigte geliefert. Das roch nach einem verpöntem “Kronzeugen-Deal” mit einem abgekürzten Verfahren. Mit künstlichen Verfahrenstrennungen könnten also nicht nur Teilnahmerechte abgeklemmt werden. Damit könnten auch fragwürdige “Kronzeugen” in abgekürzten Separatverfahren belohnt werden, was der Wahrheitsfindung sicher nicht dient. Deshalb ist es wertvoll, dass das Bundesgericht klargemacht hat, dass Verfahrenstrennungen als Zuständigkeitsfragen sofort überprüfbar sind und vor einem abgekürzten Verfahren erfolgen müssen, was auch logisch ist. So lässt sich auch nicht die Schutzvorkehr aushebeln, dass alle Parteien (also auch alle Mitbeschuldigten) einer abgekürzten Anklage gegen einen einzelnen Mitbeschuldigten zustimmen müssten (Art. 360 Abs. 2 und 4 StPO).
Voll einverstanden und herzliche Gratulation zur gutgeheissenen Beschwerde. Aber was ist mit dem rechtskräftigen Urteil gegen den “Gehilfen”?
… hab mir diese Frage auch gestellt (und das Bundesgericht hat womöglich eine dogmatisch überzeugende Antwort angedeutet). Für Spannung ist in diesem Krimi jedenfalls gesorgt …
Besten Dank für die interessanten und richtigen Erwägungen.
Unabhängig davon, finde ich es eigentlich geradezu einen Justizskandal, einen Tötungsvorwurf in einem abgekürzten Verfahren zu behandeln. Sogar wenn ausser Frage steht, dass es verdächtige Mittäter gibt. Oder übertreibe ich da?
An OK: Gratulation! Verständnisfrage: Das BGer schreibt in E1.4, der Beschwerdeführer rüge die Verletzung eines nicht näher bestimmten Bundesrechts, sagt aber nicht, welches. Auch im Urteilsbody des die Beschwerde gutheissenden Urteils konnte ich die Bezeichnung des verletzten Bundesrechts nirgends finden. In der Conclusio steht erneut nur, der Entscheid der Vorinstanz verletzte Bundesrecht, ohne dieses zu bezeichnen (E2.7). Welches Bundesrecht wurde durch die Vorinstanz genau gebrochen, und wo im Urteil wird dieses gebrochene Recht bezeichnet?
An Pirmin Dorset: Der Beschwerdeführer hat gegen das Nichteintreten auf seine Beschwerde mit verschiedenen Begründungen folgende Normen als verletzt gerügt: 29a BV (Rechtsweggarantie), 3 II StPO (Fairnessgebot und Gleichbehandlungsgebot), 29 f. StPO f. (Verfahrenseinheit) i.V.m 382 I StPO. In der Sache hat er 3 II und 29 f. StPO sowie 29 I BV als verletzt bezeichnet. Das Bundesgericht spricht von Verfahrenstrennung und führt die Art. 29, 30 und 382 StPO an.
An OK: Danke für die schnelle Antwort. Im Urteilsbody, also zwischen “Auf die Beschwerde ist im genannten Umfang einzutreten” (E1.6 letzter Satz, da endet die Eintretensprüfung und beginnt der Urteilsbody) und “Der angefochtene Entscheid verletzt demnach Bundesrecht” (E2.7 1. Satz, da endet der Urteilsbody) werden Art 29+30 StPO nicht genannt, und Art 382 nur 1x und erklärend (in E2.2), nicht jedoch rügend und nicht im Sinn, dass er verletzt worden sei. Mir ist leider immer noch nicht verständlich, welches verletzte Bundesrecht das BGer bezeichnet. Aber ich möchte nicht insistieren, wenn das allen anderen klar ist. Nochmals Gratulation und weiter so!