Von der faktischen Arbeitsverweigerung eines Haftrichters und den angedrohten Konsequenzen
Mit ungewöhnlich scharfen Worten heisst das Bundesgericht (Urteil 1B_154/2007 vom 14.09.2007, BGE-Publikation) eine Haftbeschwerde gegen einen Entscheid eines Zürcher Haftrichters gleich aus mehreren Gründen gut. Und dies, obwohl die Beschwerde an sich verspätet eingereicht wurde. Ob das Urteil letztlich die gewünschte Besserung bringt, darf dennoch bezweifelt werden: das Haftentlassungsgesuch hat das Bundesgericht abgewiesen und Konsequenzen für die gravierenden Fehler, welche das Bundesgericht dem Haftrichter vorhält, muss dieser wohl auch nicht tragen. Also wird es wohl weitergehen wie gewohnt, denn im Ergebnis hat er – abgesehen von der Verletzung von ein paar ohnehin missliebigen Verfahrensvorschriften – alles richtig gemacht. Hier nun aber die einzelnen Punkte.
Zunächst ändert das Bundesgericht seine eigene Praxis, die es unter dem alten Recht der staatsrechtlichen Beschwerde zur Anwendung gebracht hatte. In Haftsachen gelten die Gerichtsferien ab sofort nicht mehr:
Mit dem im Haftverfahren besonders zu beachtenden Beschleunigungsgebot lässt sich der Fristenstillstand nach Art. 46 Abs. 1 BGG nicht vereinbaren. Vielmehr kann mit Rücksicht auf die betroffenen Grundrechte (insbesondere persönliche Freiheit [Art. 10 Abs. 2 BV]) und die verfassungs- und konventionsrechtlich verankerten Verfahrensgarantien (insbesondere Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK) bei allen Fällen, in welchen die strafprozessuale Haft umstritten ist, der Fristenstillstand nach Art. 46 Abs. 1 BGG nicht Platz greifen. Die frühere Praxis des Bundesgerichts, welche im Rahmen der staatsrechtlichen Beschwerde bei Strafsachen und somit auch in Haftfällen den Fristenstillstand gemäss Art. 34 OG zuliess (BGE 103 Ia 367), kann unter der Herrschaft des BGG nicht weitergeführt werden (E. 1.2.2).
In der Folge setzte sich das Bundesgericht – im Gegensatz zum Haftrichter mit verschiedenen Aspekten der Verhältnismässigkeit auseinander:
Der Haftrichter bemerkt im angefochtenen Entscheid ohne weitere Begründung kurz, „dass Haft- und Vollzugsmodalitäten nicht Gegenstand des vorliegenden Entscheids sein können“. Aus der Praxis des Bundesgerichts kann jedoch im Gegensatz zur Ansicht des Haftrichters nicht gefolgert werden, der Zweck des vorzeitigen Strafantritts spiele im Rahmen der Prüfung der Verhältnismässigkeit der freiheitsentziehenden Massnahme keine Rolle. […] Die pauschale Verweigerung der Prüfung der Haft- und Vollzugsmodalitäten durch den Haftrichter wird vom Beschwerdeführer zu Recht als unzulässige Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und damit als formelle Rechtsverweigerung gerügt (Art. 29 Abs. 2 BV). Die Beschwerde ist in diesem Punkt gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben (E. 3.2.2).
Dass sich der Haftrichter nicht mit den möglichen milderen Ersatzmassnahmen auseinandersetzte, goutierte das Bundesgericht überhaupt nicht:
Es ist – wie der Beschwerdeführer richtig darlegt – nicht Aufgabe des Bundesgerichts, als erste Instanz mögliche Ersatzmassnahmen zu beurteilen und anzuordnen. Vielmehr wird der Haftrichter als im Kanton Zürich zurzeit einzige Haftprüfungsinstanz die allenfalls in Frage kommenden Ersatzmassnahmen prüfen müssen. Die Beschwerde erweist sich somit auch in dieser Hinsicht als begründet (E. 3.3.3, Hervorhebung durch mich).
In dieser Begründung ist eine klare Drohung enthalten, welche das Bundesgericht in der Folge noch konkretisiert. Zuerst begründet es aber, wieso das Haftentlassungsgesuch abzuweisen ist:
Die Unterlassungen des Haftrichters können hingegen zurzeit nicht zu einer unverzüglichen Entlassung des Beschwerdeführers aus dem vorzeitigen Strafvollzug führen, da nach der Aktenlage noch keine Überhaft anzunehmen ist und nach dem psychiatrischen Gutachten nicht ausgeschlossen werden kann, dass mit einer Freilassung des Beschwerdeführers der Untersuchungszweck gefährdet würde und der Beschwerdeführer seine deliktische Tätigkeit wieder aufnehmen könnte (E. 3.4.3).
Dann tastet sich das Bundesgericht an die bereits angesprochene Konkretisierung seiner Drohung heran und definiert, was denn eigentlich die Aufgabe des Haftrichters ist:
Zunächst hat der Haftrichter – nach dem System des Zürcher Strafprozess die einzige für die Haftprüfung zuständige kantonale Instanz – den Sachverhalt umfassend zu erheben. Er darf sich dabei nicht auf rudimentäre, oberflächliche Angaben seitens der Staatsanwaltschaft beschränken, sondern hat sich von den Tatvorwürfen und -umständen aufgrund des bisher vorliegenden Untersuchungsergebnisses ein vollständiges eigenes Bild zu machen und die Staatsanwaltschaft dazu anzuhalten, über den Lauf der Untersuchung und die verschiedenen voraussichtlichen Anklagepunkte nachvollziehbar, umfassend und konkret zu berichten. Ferner sind sämtliche Gesichtspunkte, die für die Beurteilung der strafprozessualen Haft – inklusive mögliche Vollzugserleichterungen oder Ersatzmassnahmen – wesentlich sind, im Haftrichterentscheid darzulegen und zu beurteilen. Nur auf diese Weise kann ein den verfassungs- und konventionsrechtlichen Grundsätzen genügender Entscheid erfolgen. Der angefochtene Entscheid entspricht diesen Anforderungen offensichtlich nicht (E. 3.5.1).
Wenn der Haftrichter als einzige Haftprüfungsinstanz seinen Prüfungspflichten nicht nachkommt, muss der Kanton Zürich damit rechnen, demnächst eine zweite Instanz einzurichten:
Im vorliegenden Fall kommt noch hinzu, dass es der Haftrichter auch unterlassen hat, wenigstens nachträglich, in einer Vernehmlassung zur vorliegenden Beschwerde, auf die Argumente des Beschwerdeführers einzugehen. Die diesbezügliche Einladung des Bundesgerichtes ist mit dem Vermerk „Verzicht auf Vernehmlassung“ retourniert worden (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1P.464/1996 vom 12. September 1996 E. 2c/cc, in: EuGRZ 1997 S. 16). Die Zürcher Regelung, wonach gegen den Entscheid des Haftrichters kein kantonales Rechtsmittel gegeben ist, hat das Bundesgericht trotz schwerer Bedenken als verfassungsrechtlich nicht geradezu unhaltbar bezeichnet (Urteil des Bundesgerichts 1P.516/1992 vom 7. Oktober 1992 E. 2d, in: EuGRZ 1992 S. 554). Es hat aber auch darauf hingewiesen, dass die Frage, ob die Zürcher Haftrichterregelung als grundrechtskonform angesehen werden kann, von der künftigen Rechtsanwendung durch die Zürcher Behörden abhänge. Im Sinne der dargelegten Bedenken sei nicht völlig auszuschliessen, dass sich in Anbetracht der vorhandenen Schwachstellen eine andere Lösung (Einführung einer Rekursinstanz, Ausbau der Verfahrensrechte) in Zukunft als verfassungsrechtlich notwendig aufdrängen könnte (Urteil des Bundesgerichts 1P.516/1992 vom 7. Oktober 1992 E. 3c, in: EuGRZ 1992 S. 556). Zu einem verfassungsrechtlich einwandfreien Haftprüfungsverfahren gehört wie erwähnt auch, dass der Haftrichter die wesentlichen Tatsachen und Rechtsfragen umfassend erhebt und würdigt und diese Beurteilung in seinem Entscheid darlegt (3.5.1, Hervorhebungen durch mich).
Schliesslich weist das Bundesgericht im Hinblick auf die Vereinheitlichung des Strafprozessrechts darauf hin, dass die Kantone künftig verpflichtet werden könnten, ein zwei-instanzliches Haftverfahrens einzuführen:
Im Entwurf für die schweizerische Strafprozessordnung hat der Bundesrat vorgeschlagen, für Entscheide über die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft von weniger als 3 Monaten kein Rechtsmittel vorzusehen (Art. 221 E-StPO, BBl 2006 1454). Der Ständerat ist hingegen in seiner Sitzung vom 7. Dezember 2006 als Erstrat vom Vorschlag des Bundesrats abgewichen und hat für diese Fälle generell die Einführung eines kantonalen Rechtsmittels beschlossen, welches nicht von der Dauer der Inhaftierung abhängt (AB 2006 S 1027 f.). Der Nationalrat hat sich am 20. Juni 2007 im Wesentlichen dem ursprünglichen Vorschlag des Bundesrats angeschlossen (AB 2007 N 966 f.). Aus den Beratungen der Räte ergibt sich, dass zumindest bei längerer strafprozessualer Haft mit der Einführung einer kantonalen Rechtsmittelmöglichkeit zu rechnen ist (E. 3.5.2).