Entsiegelung c. Geheimnisinteressen
Das Bundesgericht erhöht in einem neuen Grundsatzentscheid seine Eintretenshürde in Entsiegelungssachen (BGE 7B_145/2025 vom 25.03.2025, Publikation in der AS vorgesehen). Der Entscheid erweckt zu Beginn noch Hoffnung, weil anerkannt wird, dass auf jedem Smartphon höchstpersönliche Daten gespeichert sind:
Angesichts dieser technischen Entwicklung und der – damit einhergehend – geänderten Nutzungsgewohnheiten der Menschen hat heute als notorisch zu gelten, dass privat genutzte Smartphones in der Regel eine Vielzahl sensibler Daten enthalten, welche die höchstpersönliche Sphäre ihrer Inhaberin respektive ihres Inhabers tangieren (vgl. Urteile 7B_94/2022 vom 10. Oktober 2024 E. 3.2.3; 7B_416/2023 vom 10. Oktober 2024 E. 3.4). Dementsprechend ist ohne Weiteres davon auszugehen, dass bei der (vollständigen) Durchsuchung von privat genutzten Smartphones persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz im Sinne von Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO tangiert sind (E. 2.7, Hervorhebungen durch mich).
Das hilft aber nach neuem Recht in aller Regel nicht:
Dies vermag für sich alleine indessen noch keine schutzwürdigen Geheimnisinteressen im Sinne von Art. 248 Abs. 1 StPO und damit auch keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu begründen. Persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person sind wie gesehen gerade nicht absolut geschützt, sondern nur dann, wenn das Interesse am Schutz ihrer Persönlichkeit das Strafverfolgungsinteresse überwiegt (E. 2.7, Hervorhebungen durch mich).
So weit so gut, aber das schlägt nun auf die eingangs erwähnten Eintretenshürde durch:
Daraus folgt, dass auf eine Beschwerde gegen die Entsiegelung eines Mobiltelefons nur dann gestützt auf Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO eingetreten werden kann, wenn die beschwerdeführende Partei dartut oder ohne Weiteres erkennbar ist, dass das Interesse am Schutz ihrer Persönlichkeit gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse überwiegen könnte (vgl. bereits Urteile 7B_103/2024 vom 8. April 2024 E. 1.4; 1B_70/2021 vom 9. November 2021 E. 1.4; 1B_541/2021, 1B_542/2021, 1B_544/2021, 1B_545/2021 und 1B_546/2021 vom 22. März 2022 E. 2.3). Andernfalls droht von vornherein keine Offenbarung eines geschützten Geheimnisses und damit auch kein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG (E. 2.7, Hervorhebungen durch mich).
Ist persönlich immer auch höchstpersönlich? Gibt es keine verfassungsrechtlich geschützten Geheimhaltungsinteressen mehr, die abwägungsresistent sind?
Ich verstehe gar nicht, wieso so viele backdoorverseuchte Systeme verwenden.
Die Polizei verwendet (hauptsächlich) Cellebrite, das auch nur bekannte „Schwachstellen“ (aka absichtlich implementierte Backdoors) ausnutzt. Umgekehrt kann ein Gerät erkennen, dass es gerade „gehackt“ wird und einfach Daten vorgaukeln z.B. irgendwelche Kontakte, Bilder etc.
Verschlüsselung funktioniert. Einfach (richtig) anwenden. Dann kommt keiner rein. Noch besser wären Zero-Trust-Devices in einer Zero-Trust-Architektur: Da kann man dann auf seine Daten zugreifen, selbst wenn einem alles weggenommen wurde.
„Schöne Grüsse an das Oberlandgericht von der Crème de la Crème im Drogenhandelbusiness.“
Verstehe ich den Entscheid richtig? Wenn die Interessenabwägung zum angerufen Geheimhaltungsinteresse negativ ausfällt, kann ich im Entsiegelungsverfahren beispielsweise auch nicht mehr den für eine Durchsuchung erforderlichen Anfangsverdacht oder die unzulängliche Siegelung rügen?
@Markus: So verstehe ich ihn nicht, aber ich bin nicht sicher.
Der Beschwerdeführer hat eben vor Bundesgericht auch geltend gemacht, das Siegelungsverfahren als solches sei nicht korrekt durchgeführt worden (Belassung des Mobiltelefons bei Stawa). Ein Einwand, der gar nicht erst geprüft wird. Das liess mich zu meiner Interpretation bzw. Frage kommen.
@Markus Trottmann: Das ist korrekt (keine Rüge im Entsiegelungsverfahren mehr möglich) und entspricht der gängigen Praxis. Der relevante Hinweis findet sich in E. 2.5 des hier behandelten BGE 7B_145/2025 vom 25.03.2025, der wiederum auf BGE 7B_313/2024 vom 24.09.2024 verweist. Die relevanten Abschnitte daraus (E. 4.3 und 4.4) lassen sich sinngemäss wie folgt zusammenfassen:
Zwar kann der Entsiegelungsrichter bei einem ausreichend substanziierten Geheimnisinteresse akzessorisch auch die allgemeinen Zwangsmassnahmenvoraussetzungen (Art. 197 StPO) mit prüfen. Steht aber fest, dass kein Geheimhaltungsrecht im Sinne von Art. 264 StPO als Zwangsmassnahmenhindernis substanziiert angerufen wird, erübrigt sich jede weitere Prüfung (z.B. Verhältnismässigkeit, hinreichender Tatverdacht etc.). Die Staatsanwaltschaft wird nach erfolgter Durchsuchung der entsiegelten Unterlagen allfällige untersuchungsrelevante Aufzeichnungen als Beweismittel förmlich beschlagnahmen (Art. 263 Abs. 1 lit. a StPO). Dem Beschuldigten resp. seiner Verteidigung stünde es somit dann frei, die allgemeinen Zwangsmassnahmenvoraussetzungen von Art. 197 StPO, darunter den hinreichenden Tatverdacht (lit. b) oder die Untersuchungsrelevanz der erhobenen Beweismittel (lit. c), nötigenfalls im Rahmen einer StPO-Beschwerde gegen eine allfällige Beschlagnahmeverfügung zu bestreiten (Art. 393 Abs. 1 lit. a StPO).
@Rob: korrekt – meiner Meinung nach müsste man zudem bzgl. den persönlichen Aufzeichnungen/Korrespondenzen präzisieren wie folgt:
Selbst wenn ein Geheimhaltungsrecht im Sinne von Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO als Zwangsmassnahmenhindernis substanziiert angerufen wird – das Interesse der beschuldigten Person am Schutz ihrer Persönlichkeit gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse jedoch nicht überwiegt – erübrigt sich jede weitere Prüfung (z.B. Verhältnismässigkeit, hinreichender Tatverdacht etc.).
@Rob und Siegelung. Vielen Dank für die klärenden Rückäusserungen. Bei der Beschwerde gegen die Beschlagnahme stellt sich dann aber die Frage, ob man das erforderliche aktuelle Rechtsschutzinteresse hat. Ich habe diesbezüglich gerade einen merkwürdigen Nichteintretensentscheid von einem kantonalen Beschwerdegericht erhalten im Zusammenhang mit einer Beschwerde gegen die Anordnung einer (verweigerten) Blutprobe. Soll sich der Sachrichter darum kümmern.
@Siegelung: Besten Dank für die zutreffende Präzisierung weiter oben (07/04/2025 um 11:22 Uhr).
@Markus Trottmann: Bitte beachten Sie meine nachfolgende Einschätzung bezüglich des von Ihnen geschilderten Nichteintretensentscheids, wobei Ihnen das meiste davon sicherlich bereits bekannt ist.
Ohne genaue Aktenkenntnis bzw. ohne genau zu wissen, was Gegenstand Ihrer Beschwerde war, lässt sich nur mutmassen. Trotzdem soll der Versuch unternommen werden, Ihre durchaus legitime Frage zum „erforderlichen aktuellen Rechtsschutzinteresse“ im Kontext des oben behandelten (Rüge im Entsiegelungsverfahren) einzuordnen.
a) Verweigerte Blutprobe:
In Ihrem aktuellen Fall (der hat sich womöglich anders zugetragen, aber ich versuche es trotzdem hypothetisch) ist anzunehmen, dass die Staatsanwaltschaft vorerst mündlich und später schriftlich die Entnahme einer Blutprobe anordnete, um eine mögliche Fahrunfähigkeit z. Bsp. wegen Drogen zu überprüfen. Der Betroffene verweigerte die Blutabnahme und macht sich womöglich strafbar wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit nach Art. 91a SVG. Gegen den Untersuchungsbefehl wurde Beschwerde bei der kantonalen Beschwerdeinstanz eingereicht (Anlass der Rüge war vermutlich die Voraussetzungen von Zwangsmassnahmen nach Art. 197 StPO). Auf die Beschwerde wurde angeblich nicht eingetreten; es fehle am erforderlichen aktuellen Rechtsschutzinteresse.
Warum der Nichteintretensentscheid?
Da die Blutprobe nie durchgeführt wurde (und – es ist anzunehmen – auch nicht mehr durchgeführt wird, d. h. die Staatsanwaltschaft darauf verzichtet), fehlte ein aktuelles Interesse an der Aufhebung der Anordnung selbst. Die direkte Wirkung der angefochtenen Verfügung war nie eingetreten. Dasselbe würde gelten, wenn die hoheitliche Verfahrenshandlung im fraglichen Prozessstadium nicht mehr korrigiert werden kann. Als Beispiel dafür wird regelmässig die bereits durchgeführte Hausdurchsuchung genannt.
Vorbehalt:
1) Solange eine erlassene Anordnung einer Zwangsmassnahme (hier die Blutprobe) rechtlich noch Bestand hat und theoretisch noch vollstreckt werden könnte (auch wenn es faktisch keinen Sinn mehr macht), besteht für den Betroffenen doch noch ein aktuelles rechtlich geschütztes Interesse an der Überprüfung ihrer Rechtmässigkeit durch die Beschwerdeinstanz.
2) Wenn die Beschwerdeinstanz besondere Gründe erkennt, wie grundsätzliche Bedeutung oder EMRK-Verletzungen, um die Beschwerde trotzdem materiell zu beurteilen.
Fazit:
Die Rechtmässigkeit der (angeordneten) Blutprobe kann zu einem späteren Zeitpunkt im Hauptverfahren geprüft werden. Dem Betroffenen entsteht dabei kein nicht wiedergutzumachender Nachteil. Wenn das Sachgericht erkennt, dass die Anordnung der Blutprobe tatsächlich rechtswidrig war, könnte die Verweigerung der Blutprobe gerechtfertigt gewesen sein. In diesem Fall wäre Art. 91a SVG nicht erfüllt. Diese Vorgehensweise, eine Rüge erst unmittelbar vor dem Sachgericht geltend zu machen, hat sich in ähnlich gelagerten Fällen in der Praxis herausgebildet.
b) Entsiegelungsverfahren und nachträgliche Rüge von Art. 197 StPO während Beschlagnahme:
Auf den ersten Blick scheint eine Ungleichbehandlung zwischen den Fällen a) und b) zu bestehen. Bei genauerer Betrachtung erklären sich die Diskrepanzen. Es handelt sich um unterschiedliche Verfahrenskonstellationen und Prüfungszeitpunkte für die Rüge von Zwangsmassnahmenvoraussetzungen nach Art. 197 StPO.
Zur Entsiegelung und Beschlagnahme:
Wenn das ZMG die Entsiegelung bewilligt und die Staatsanwaltschaft die Inhalte durchsucht hat, erlässt sie für die relevanten Beweismittel eine separate Beschlagnahmeverfügung i.S.v. Art. 263 Abs. 1 lit. a StPO.
Gegen diese spezifische Beschlagnahmeverfügung kann der Betroffene dann Beschwerde einlegen und dabei (erneut oder erstmals umfassend) die Verletzung der Voraussetzungen von Art. 197 StPO rügen (z.B. hinreichender Tatverdacht, Verhältnismässigkeit).
Fazit:
Hier dürfte ein aktuelles Rechtsschutzinteresse eher anerkannt werden, da die Beschlagnahme weiterhin andauert, die direkte Wirkung der Beschlagnahme demnach noch nicht eingetreten ist, und die Verwendung der möglicherweise unrechtmässig zu erlangenden Beweismittel im Verfahren noch verhindert werden könnte.
Um eine Rüge in Konstellationen wie der hier behandelten – d. h. Fall b) – zu untermauern, empfiehlt es sich allenfalls der Beizug des oben zitierten BGE 7B_313/2024 vom 24.09.2024 (E. 4.3 und 4.4).
Die Beschwerde gegen Beschlagnahmungen muss man erst mal haben in diversen Kantonen wird nur sichergestellt und eben nicht Beschlagnahmt, mit unter über Jahre hinweg. Glarus zB
@John: Ihr Einwand ist sehr treffend. Da können einem die Hände schon gebunden sein.
Die StPO sieht in der Tat keine spezifische Frist vor, innert der eine Sicherstellung von Gegenständen durch einen Beschlagnahmebefehl abgelöst werden muss.
Während das Gesetz hier keine starre Schranke setzt, können die Grundsätze der Verhältnismässigkeit und des Beschleunigungsgebots der Verfahrensleitung jedoch Grenzen setzen. Ein übermässiges Hinauszögern der formellen Beschlagnahme, namentlich in übersichtlichen oder einfacheren Fällen, kann nach mehreren Monaten unverhältnismässig werden.
In solchen Konstellationen kann eine proaktive prozesstaktische Stossrichtung erwogen werden, auch wenn sie kein Patentrezept darstellt. Ziel kann unter anderem sein, auf eine klare Positionierung und Offenlegung der Verfahrensleitung hinzuwirken:
1. Antrag auf Herausgabe: Die betroffene Person sollte die Herausgabe der sichergestellten Gegenstände beantragen. Dieser Schritt versetzt die Verfahrensleitung in Zugzwang. Sie muss nun bei einer Rückweisung des Antrags begründen, weshalb die Gegenstände weiterhin für das Verfahren benötigt werden. Dabei wären prozesstaktische Gründe darzulegen oder materiell zu untermauern, weshalb zwar eine Sicherstellung aber etwa eine Beschlagnahme noch nicht erfolgt ist, jedoch möglicherweise bevorsteht.
2. Eventualantrag auf Erlass eines Beschlagnahmebefehls: Falls die Verfahrensleitung eine Herausgabe ablehnt, kann eventualiter die Ausstellung eines begründeten Beschlagnahmebefehls beantragt werden. Damit drängt man die Verfahrensleitung, die formellen Voraussetzungen für eine Beschlagnahme zu substantiieren, wenn auch in der Regel nur summarisch. Sie sollten unter anderem Ausführungen zum inkriminierten Sachverhalt sowie zur Beweislage enthalten, die den Tatverdacht begründen, sowie den mutmasslichen Zusammenhang zwischen Delikt und Beschlagnahmeobjekt aufzeigen.
Bleibt die Staatsanwaltschaft trotz Aufforderung untätig oder lehnt sie Anträge unzureichend begründet ab, kann die Erhebung einer Beschwerde bis ans Bundesgericht erwogen werden.
Im Rahmen einer solchen Beschwerde ans BGer kann unter anderem die Verletzung des Beschleunigungsgebots bezüglich der Dauer der Massnahme geltend gemacht werden. Zwar ist die Eintretens-Hürde für die Anfechtung von Zwischenentscheiden vor Bundesgericht bekanntlich hoch – es bedarf eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils –, doch dürfte dieser bei der Beschlagnahme oder länger andauernden Sicherstellung von Gegenständen gegeben sein (vgl. z. Bsp. BGE 1B_423/2020 vom 10.12.2020, E. 1). Hier dürfte die Verfahrensleitung bestimmt mit einem Antrag auf Abweisung der Beschwerde hinwirken, wobei sie eben (erneut) ihre Begründung offenlegen muss.
Auch wenn diese Schritte nicht zwingend sofort zur Rückgabe der Gegenstände oder zu einer Verfahrenseinstellung führen, drängen sie die Verfahrensleitung zu einer konkreten anfechtbaren Verfahrenshandlung (z. Bsp. Beschlagnahmeverfügung) oder mindestens zu einer umfassenderen Offenlegung ihrer Position. Damit verschaffen sie der betroffenen Person resp. dem Verteidiger wertvolle Grundlagen, um die Verteidigungsstrategie gezielter und informierter auszurichten. Vor allem von Vorteil bei dünner Aktenlage oder wenn noch gar keine Akteneinsicht erfolgen konnte.
Es ist jedoch essenziell zu betonen, dass die optimale Vorgehensweise stark von den spezifischen Umständen des Einzelfalls abhängt. In reinen Aktivismus zu verfallen und dabei schlafende Hunde zu wecken, kann sich letztlich auch als nachteilig erweisen.
Faktisches Fazit somit: abgesehen von geltend gemachter Anwaltskorrespondenz kann das ZMG alle Entsiegelungsgesuche der STA selbst bei Substantiierung direkt und ohne Aussonderung gutheissen!