Tatverdacht: Teilnahme an einem Wirtschaftsdelikt
Das Bundesgericht verfällt in einem neuen Urteil erneut in die Rolle eines Zwangsmassnahmenrichters. Es überprüft Tat- und Rechtsfragen in freier Kognition und marginalisiert damit den eigentlich zuständigen Richter noch mehr als der Gesetzgeber (BGer 1B_235/2015 vom 11.12.2015).
Im vorliegenden Fall beurteilt sie den vom ZMG nicht erkannten hinreichenden Tatverdacht in einen „hinreichenden Tatverdacht an der „Teilnahme an einem Wirtschaftsdelikt“ um (als ob es einen Tatverdacht an der „Teilnahme an einem Wirtschaftsdelikts“ begrifflich und inhaltlich überhaupt geben könnte):
Bei gesamthafter Betrachtung dieser vorläufigen Untersuchungsergebnisse hält die Verneinung des hinreichenden Tatverdachtes einer Teilnahme des privaten Beschwerdegegners an einem Wirtschaftsdelikt (Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO i.V.m. Art. 147, Art. 22 und Art. 24 f. StGB) vor dem Bundesrecht nicht stand.
Wenn es so einfach wäre mit dem Tatverdacht, hätte sich das Bundesgericht folgende Umgehung sparen können:
Eine Entsiegelung des sichergestellten Laptops des Beschwerdegegners wäre grundsätzlich selbst dann möglich, wenn er nicht selbst beschuldigt und der Teilnahme an den untersuchten Delikten hinreichend verdächtig wäre: Beweisrelevante Aufzeichnungen könnten grundsätzlich auch bei Drittpersonen beschlagnahmt werden (Art. 263 Abs. 1 Ingress und lit. a StPO). Wie bereits dargelegt, besteht ein ausreichend konkreter Bezug zwischen der verdächtigen Geschäftstätigkeit des Beschwerdegegners und den untersuchten Delikten. Die Untersuchungsrelevanz der sichergestellten Aufzeichnungen ist daher im Prinzip zu bejahen. Auch dient die streitige Zwangsmassnahme der Aufklärung von schweren (Cyber-) Wirtschaftsdelikten, nämlich versuchten Verbrechen (Art. 147 i.V.m. Art. 22 und Art. 10 Abs. 2 StGB) mit einem Deliktsbetrag von mehr als Fr. 1,26 Mio. Auch unter diesem Gesichtspunkt erscheint der Eingriff grundsätzlich – nämlich vorbehältlich allfälliger schutzwürdiger Geheimhaltungsinteressen und etwaiger nicht untersuchungsrelevanter konkreter Dateien (aufgrund entsprechender Substanzierungen des Beschwerdegegners) – als verhältnismässig (Art. 197 Abs. 1 lit. c-d und Abs. 2 StPO; vgl. BGE 141 IV 77 E. 4.3 S. 81; 138 IV 225 E. 7.1 S. 229; je mit Hinweisen) [E. 4.7].
Merke: Falls es ausnahmsweise einmal nicht möglich sein sollte, einen hinreichenden Tatverdacht gegen eine bestimmte Person zu begründen, dann schlägt man halt einfach beim Dritten zu, der irgend einen Bezug zu einer verdächtigen Tätigkeit aufweist.
Als Verfahrensleiter der zugrundeliegenden Strafuntersuchung verfüge ich über folgende Hintergrundinformation:
Die Beschwerdeschrift des Oberstaatsanwaltschaft Zürich, die diesem Bundesgerichtsurteil zugrunde liegt, befasst sich intensiv mit dem Problem, ob und inwieweit die Prüfung des Tatverdachts Tat- oder Rechtsfrage ist. Es ist erstaunlich, dass sich diese Argumentation wohl in der Erkanntnis, jedoch praktisch nicht in der Begründung des Bundesgerichts niedergeschlagen hat.
M J-R-d-B: 3 Verständnisfragen dazu: Auf welche Erwägung bezieht sich Ihr Kommentar? Zu welcher Schlussfolgerung gelangte die Beschwerdeschrift, Tat- oder Rechtsfrage? Was ist der Zusammenhang zwischen dieser Schlussfolgerung und jener Erwägung?
1. Mein Kommentar bezieht sich v.a. auf die Kritik von Konrad Jeker am fraglichen Bundesgerichtsentscheid, das Bundesgericht prüfe Tat- und Rechtsfragen in freier Kognition und marginalisiere damit die Vorinstanz. Tatsächlich vermisse auch ich im fraglichen Entscheid Erwägungen zu den Beschwerdegründen gemäss Art. 95 ff. BGG. Mein Kommentar bezieht sich somit auf eine Erwägung, die nicht vorhanden ist, aber traditionellerweise in ein Bundesgerichtsurteil gehört.
2. Die Beschwerdeschrift der Oberstaatsanwaltschaft stellt sich auf den Standpunkt, der Tatverdacht habe im Strafprozessrecht eine Schlüsselfunktion und sei der Hauptgrund, weshalb im Strafprozess in Grundrechte eingegriffen werden könne. Der Tatverdacht sei deshalb – auch unter dem Gesichtspunkt von Art. 36 BV – nicht nur als tatsächliches, sondern auch als rechtliches Phänomen zu behandeln. Aus Art. 7 Abs. 1 StPO folge eine Zweiteilung des Tatverdachts in den Basissachverhalt (vorläufige tatsächliche Feststellung) und den Wahrscheinlichkeitsschluss, wonach der Basissachverhalt auf Straftaten hinweise. Dieser Wahrscheinlichkeitsschluss sei rechtlicher Natur. Dieser Gesichtspunkt des Bundesrechts sei von der Vorinstanz schon allein deshalb verletzt worden, weil ihre Problemanalyse nicht zwischen Basissachverhalt und Wahrscheinlicheitsschluss unterscheide.
3. Da „jene Erwägung“ fehlt, gibt es keinen solchen Zusammenhang. Die Ansicht, das Bundesgericht sei in der Erkanntnis der Argumentation der Oberstaatsanwaltschaft gefolgt, stützt sich auf den Umstand, dass das Bundesgericht auf die Beschwerde eingetreten ist und diese gutgeheissen hat.
Bemerkenswerte Perspektive. Und sie ergänzt den Wortschatz der geneigten Leserschaft von kjs Blog – auf das erste Lesen hin sah der Begriff nach mittelhochdeutsch aus, aber das wäre wohl die Erkanntnuß.
Gemäss Duden ist „das Erkanntnis“ schweizerisch, aber nicht veraltet. (Ich dachte „die Erkanntnis“). Es bedeutet Dispositiv des Urteils.