Abstraktes Gefährdungsdelikt gegen das Gleichgewicht
Wer einen Kontrolleur anlässlich einer Fahrscheinkontrolle in der S-Bahn absichtlich stösst (mit der Schulter rempelt), kann wegen Gewalt und Drohung nach Art. 285 StGB verurteilt werden (BGer 6B_798/2016 vom 06.03.2016).
Das gilt gemäss Bundesgericht jedenfalls dann, wenn der Angerempelte ohne Ausfallschritt aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnte:
Ein Stoss, durch den der Betroffene aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann, wenn er nicht einen Ausfallschritt vornimmt, ist, gleichgültig, ob er mit den Händen, Füssen oder mit der Schulter ausgeführt wird, ein tätlicher Angriff im Sinne von Art. 285 Ziff. 1 StGB (Urteil des Bundesgerichts Str. 60/82 vom 19. April 1982 E. 2) [E. 4.3].
Ich verliere übrigens beim Gehen mit jedem Schritt kurz das Gleichgewicht und muss das jeweils durch den nächsten Schritt ausgleichen.
Wer den Kontrolleur zum Gehen/Rennen animiert (durch z.B. Drohung oder Gewalt) wird ja auch bestraft 🙂
Der Entscheid des BGer ist absolut richtig! Zugspersonal, Kontrolleure müssen konsequent gegen körperliche Übergriffe von Zugspassagieren etc. geschützt werden. Genau das war u.a. auch der Grund für die Einführung des per 01.10.2011 eingeführten Abs. 2 von Art. 285 Ziff. 1 StGB.
Zudem hat das BGer einem – übereifrigen (?) – Verteidiger wieder einmal erklärt, dass nicht jede geringfügige Abweichung vom in der Anklageschrift geschilderten Sachverhalt eine Verletzung des Anklageprinzips darstellt bzw. dass das gerichtlich festgestellte Beweisergebnis innerhalb des in der Anklage konkretisierten Vorwurfs liegt.
P.S.: Wenn kj beim“Gehen“ jeweils das Gleichgewicht verliert, ist das nicht zu vergleichen mit dem im erwähnten BGer-Entscheid beurteilten Rempeln mit der Schulter, wodurch der Sicherheitsangestellte das Gleichgewicht verlor.
Ist ja schon klar, dass sich ein StA (wie die Gerichte übrigens auch) lieber weniger
„eifrigige“ Verteidiger wünscht. Angesichts dem heutigen Hang zum Kriminalisieren und Verurteilen bin ich jedoch froh, dass auch andere Verteidiger existieren.
Wenn die Anklage den Vorwurf nicht genau umschreiben muss, dann können wir den Anklagegrundsatz gleich bleiben lassen und das Gericht soll sich nach eigenem Gutdünken den Sachverhalt zurechtlegen, wie es sich das wünscht.
Der Duden-Eintrag für „rempeln“ lautet: „(umgangssprachlich) mit dem Körper, besonders mit dem Arm, mit einem Fahrzeug o. Ä. stoßen, anstoßen, wegstoßen“ (www.duden.de/rechtschreibung/rempeln).
Das Gericht bringt in seiner Abweisungsbegründung vor, laut Dudenseite 897 von 2009 bedeute „rempeln“ absichtliches Stossen (E4.3 2. Satz). Ausser der Duden hat seine Definition in den letzten 8 Jahren geändert, stimmt das nicht, im aktuellen Duden steht nichts von Absicht.