Abweichende rechtliche Würdigung auch ohne Würdigungsvorbehalt
Nach Art. 344 StPO muss das Gericht die anwesenden Partien anhören, wenn es einen Sachverhalt rechtlich anders würdigen will als die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift. Nach einer altrechtlichen Verfahrensnorm und der Rechtsprechung des Bundesgerichts (vgl. BGE 126 I 19 E. 2d/bb mit Hinweisen) konnte darauf verzichtet werden, wenn die vorgängige Anhörung zur veränderten rechtlichen Würdigung keine Auswirkungen auf die Ausübung der Verteidigungsrechte haben konnte.
In diesem Sinn hat das Bundesgericht eine Beschwerde unter Anwendung bisherigen Rechts abgewiesen (BGer 6B_197/2012 vom 05.02.2013). Es lässt aber wohl erkennen, dass es unter dem Regime des neuen Rechts auf Verletzung des rechtlichen Gehörs entschieden hätte, obwohl die Verfassung damals wie heute dieselbe war. Nach neuem Recht wäre der unterlassene Würdigungsvorbehalt wohl eine Verletzung von Art. 344 StPO, der offenbar über den verfassungsrechtlichen Gehörsanspruch hinausgeht.
Während das Kantonsgericht den Straftatbestand der Schändung bejahte, gelangte das Obergericht zur Auffassung, dass derjenige der sexuellen Nötigung erfüllt ist. Zur Begründung des Schuldspruchs stellte es ausschliesslich auf Sachverhaltselemente (Überrumpelung und Verschliessen der Türe) ab, die bereits in der Anklageschrift genannt wurden und sowohl im erstinstanzlichen wie auch im Berufungsverfahren seitens der Verteidigung thematisiert worden waren. Der Beschwerdeführer musste deshalb mit einer Änderung des rechtlichen Gesichtspunkts rechnen, falls das Gericht zur Auffassung gelangen sollte, es liege keine konstitutionelle, sondern eine situationsbedingte Widerstandsunfähigkeit des Opfers vor. Nachdem er ausführlich zur Frage der ihm zur Last gelegten nötigenden Handlungen Stellung bezogen hatte, konnte der unterlassene Hinweis auf die Veränderung des rechtlichen Beurteilungsgesichtspunktes keine Auswirkung auf seine Verteidigungsrechte haben. Nach der zum Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids massgebenden Rechtslage liegt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor (E. 3.4).