Adhäsionsprozess nach welchen Regeln?
In einem erstinstanzlichen Strafurteil wurde ein Beschuldigter wegen Veruntreuung verurteilt und verpflichtet, den Geschädigten Schadenersatz zu zahlen. In zweiter Instanz wurde zwar die Verurteilung im Strafpunkt bestätigt, die Adhäsionsklage aber abgewiesen mit der Begründung, nicht der Verurteilte schulde den Zivilklägern den geltend gemachten Betrag, sondern eine GmbH.
Das Bundesgericht kassiert den Entscheid (BGer 6B_335/2017 vom 24.04.2018), weil die Zivilkläger mit einer solchen Begründung nicht rechnen mussten und dazu nicht angehört worden waren (Gehörsverletzung). Es entscheidet aber faktisch auch gleich materiell. Die Begründung des Bundesgerichts ist in mehrfacher Beziehung bemerkenswert, weshalb ich die entscheidenden Erwägung 4 ungekürzt kopiere (Hervorhebungen durch mich):
4.1. Der Adhäsionsprozess ist kein selbständiger Zivilprozess, welcher dem Strafverfahren nur angehängt ist. Seiner Natur nach ist der Adhäsionsprozess ein in den Strafprozess integrierter Zivilprozess, für den aufgrund dieser Besonderheit in mancherlei Hinsicht besondere Regeln gelten. Das Adhäsionsverfahren richtet sich nach der StPO und nicht nach der ZPO. Generell fliesst aus dem Charakter des Adhäsionsverfahrens, dass im Zentrum des Strafverfahrens die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs steht und dass die dazu erforderlichen Verfahrensschritte ebenfalls dazu dienen müssen, die Grundlagen für den Entscheid im Zivilpunkt zu liefern. Nur soweit Lücken bestehen, sind zivilprozessuale Regelungen und Grundsätze anwendbar (Schmid/Jositsch, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, N. 703; Annette Dolge, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 9 sowie 13 ff. zu Art. 122 StPO).Wie die nachfolgenden Erwägungen zeigen, kann vorliegend offen bleiben, ob straf- oder zivilprozessuale Regeln zur Anwendung gelangen, denn die Vorinstanz hätte den Beschwerdeführern jedenfalls das rechtliche Gehör gewähren müssen, bevor sie deren Zivilklage abwies.4.2. Will das Gericht den Sachverhalt rechtlich anders würdigen als die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift, so eröffnet es dies den anwesenden Parteien und gibt ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme (Art. 344 i.V.m. Art. 379 StPO). Wendet man diese strafprozessuale Bestimmung sinngemäss auf den Adhäsionsprozess an, dann hätte die Vorinstanz den Beschwerdeführern das rechtliche Gehör gewähren müssen, bevor sie deren Adhäsionsklage abwies.4.3. Gleiches ergibt sich aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Anspruch auf rechtliches Gehör im Allgemeinen. Demnach besteht zwar kein verfassungsrechtlicher Anspruch der Parteien, zur rechtlichen Würdigung der durch sie in den Prozess eingeführten Tatsachen noch besonders angehört zu werden. Ebenso wenig folgt aus dem Gehörsanspruch, dass die Parteien vorgängig auf den für den Entscheid wesentlichen Sachverhalt hinzuweisen wären (BGE 130 III 35 E. 5 S. 39; 108 Ia 293 E. 4c S. 295). Eine Ausnahme besteht aber dann, wenn ein Gericht seinen Entscheid mit einem Rechtsgrund zu begründen beabsichtigt, auf den sich die beteiligten Parteien nicht berufen haben und mit dessen Erheblichkeit sie vernünftigerweise nicht rechnen mussten (BGE 130 III 35 E. 5 S. 39; 126 I 19 E. 2c/aa S. 22; 124 I 49 E. 3c S. 52; 123 I 63 E. 2d S. 69; 115 Ia 94 E. 1b S. 96 f.; 114 Ia 97 E. 2a S. 99, mit weiteren Hinweisen; Michele Albertini, Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Diss. Bern 2000, S. 270 f.; Georg Müller, Rechtsgleichheit, Kommentar zur Bundesverfassung [Überarbeitung], 1995, Rz. 105 zu Art. 4 BV).4.4.Die Vorinstanz begründet ihr Urteil mit einem Rechtsgrund, auf den sich keine Partei berief. Der Beschwerdegegner begründete die Abweisung der Zivilklage einzig mit dem beantragten Freispruch vom Vorwurf des Betrugs. Die Beschwerdeführer mussten vernünftigerweise nicht damit rechnen, dass die Vorinstanz ihre Zivilklage mit der Begründung abweisen würde, die Y.________ GmbH und nicht der Beschwerdegegner schulde den Kauferlös von Fr. 41’000.–.4.5. Nach dem Gesagten verletzte die Vorinstanz den Anspruch der Beschwerdeführer auf rechtliches Gehör. Es erübrigt sich daher grundsätzlich, auf deren weitere Rügen einzugehen. Immerhin ist aber zu bemerken, dass die Verursachung eines Vermögensschadens widerrechtlich im Sinne von Art. 41 OR ist, wenn sie eine einschlägige Schutznorm verletzt. Gegen eine solche Schutznorm verstiess der Beschwerdeführer eindeutig, weil er mittlerweile rechtskräftig wegen Veruntreuung verurteilt wurde. Neben einer allfälligen vertraglichen Forderung gegen die Y.________ GmbH besteht somit seitens der Beschwerdeführer ein deliktsrechtlicher Anspruch gegen den Beschwerdegegner, wobei die Anspruchspflichtigen in unechter Solidarität haften (Art. 50 und Art. 51 OR; BGE 130 III 591 E. 5.5.1 mit Hinweisen).
Ein durchwegs unverständlicher Entscheid des Bundesgerichts. Zunächst werden “mit grosser Kelle” Grundsatzfragen aufgeworfen, nur um diese dann samt und sonders offen zu lassen. Sodann ist die Aktivlegitimation einer Partei — auch wenn nach schweizerischer Ansicht nicht Prozessvoraussetzung, sondern Teil des Anspruchs — sogar im reinen Zivilprozess von Amtes wegen zu prüfen. Im Strafprozess gilt ohnehin die Offizialmaxime. Unverständlich bleibt zuletzt auch der (banale) Hinweis auf die Rechtswidrigkeit beim reinen Vermögensschaden nach OR 41, wenn es in erster Linie an der Aktivlegitimation zu fehlen scheint; diese dürfte auch nach der Gewährung des rechtlichen Gehörs noch fehlen…
Nichts begriffen. Wie auch das Obergericht Bern, welches offenbar Nachhilfe in der Unterscheidung von vertraglichen und deliktischen Ansprüchen gebrauchen könnte.
Vielen Dank für Ihren wertvollen Diskussionsbeitrag. Ich habe den Entscheid tatsächlich nicht begriffen (steht ja auch so in meinem Post). Wenn Sie ihn begriffen zu haben glauben, könnten Sie ja versuchen, ihn uns allen zu erklären. Den Fall selbst kenne ich übrigens nicht näher. Wenn der Entscheid des Berner Obergerichts aber tatsächlich einfach materiell falsch war, gäbe es auch keinen Grund, hier seitenweise über prozessuale Grundsätze zu salbadern…