Änderung der Rechtsprechung zu den Haftgründen
Das Bundesgericht verwirft seine bisherige Rechtsprechung zu Art. 221 StPO Abs. 1 lit. c StPO. Nach einem sorgfältig und überzeugend begründeten Grundsatzentscheid (BGE 7B_1035/2024 vom 19.11.2024, Publikation in der AS vorgesehen) gilt bei der einfachen Wiederholungsgefahr ab sofort ganz einfach das, was im Gesetz steht:
Die Auslegung von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ergibt, dass die beschuldigte Person nur wegen einfacher Wiederholungsgefahr inhaftiert werden kann, wenn sie bereits zuvor wegen mindestens zwei gleichartigen Straftaten verurteilt worden ist. Die in BGE 137 IV 84 E. 3.2 etablierte Rechtsprechung lässt sich unter dem neuen Recht nicht weiterführen (E. 2.11).
.. und zwar rechtskräftig verurteilt (E.2.10). Weil die bisherige “bundesgerichtliche Auslegung des Gesetzestexts […] in einem Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung” stehe (E.2.6).
M.E. steht/stand sie nicht bloss in einem “Spannungsverhältnis”, sondern verletzt die Unschuldsvermutung klar, solange keine rechtskräftige Verurteilung vorliegt. Stellt der Entscheid ja sinngemäss selber fest und nennt die UV ein zentrales Prinzip “für den modernen Strafprozess” (E.2.7). Hört, hört!
Was ist denn los am Bundesgericht? Zu viel Kritik aus dem Schrifttum, in Rechtsblogs? Oder wollen die Bundesrichter mit solchen sorgfältig begründeten Entscheiden wieder einmal öffentlich glänzen, um dann in anderen Rechtsfragen ihre fragwürdige Praxis still und weitgehend unbeachtet fortzusetzen?
Diese Klarstellung war längst überfällig. Nun sollte das Bundesgericht auch bei der Prüfung aller Haftgründe dem Treiben von Staatsanwaltschaft, ZMG und OG den Riegel vorschieben: Nicht geprüfte Haftgründe sollten automatisch als nicht bestehend gelten. Es darf zudem nicht ausreichen, wenn die Staatsanwaltschaft Fluchtgefahr, Kollusionsgefahr oder (einfache bzw. qualifizierte) Wiederholungsgefahr lediglich behauptet, ohne diese konkret und nachvollziehbar zu begründen. Es ist nicht die Aufgabe der Gerichte, fehlende Argumentationen der Staatsanwaltschaft selbst zu ergänzen oder nach möglichen Begründungen zu suchen – im Sinne von “wer sucht der findet” oder “was nicht passt, wird passend gemacht”.
Die Staatsanwaltschaft, die als führende Instanz im Ermittlungsverfahren die Akten am besten kennt, trägt die Verantwortung, die geltend gemachten Haftgründe umfassend und detailliert darzulegen. Die Aufgabe von ZMG, OG und BGER besteht darin, zu prüfen, ob diese Begründungen rechtlich und faktisch ausreichen. Dieses Vorgehen ist essenziell, um die Verantwortung der Verfahrensbeteiligten klar zu trennen, die Qualität der Haftentscheide zu erhöhen und die Rechtsstaatlichkeit zu wahren.
“…wenn sie bereits zuvor wegen mindestens zwei gleichartigen Straftaten verurteilt worden ist…”. Fraglich erscheint somit nur noch, ob eine einzige Verurteilung wegen zweier oder mehrere begangener, relevanter Taten reicht oder ob zwei verschiedene Urteile vorliegen müssen. Aus meiner Sicht müsste erste Variante genügen.
@M.S.: Guter Punkt. Neige auch eher zu Variante 1, obwohl mir 2 lieber wäre.