Änderung / Erweiterung der Anklage
In einem neuen Grundsatzentscheid spricht sich das Bundesgericht klar für eine vorsichtigere Anwendung von Art. 333 StPO aus (BGE 6B_171/2022 vom 29.11.2022, Publikation in der AS vorgesehen).
Zur Immutabilität:
Im Gerichtsverfahren gilt grundsätzlich das Immutabilitätsprinzip (BGE 148 IV 124 E. 2.6.7 mit Hinweis). Danach ist das Gericht an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden (vgl. Art. 350 Abs. 1 StPO). Gemäss Art. 340 Abs. 1 lit. b StPO kann die Anklage an der Hauptverhandlung nach der Behandlung allfälliger Vorfragen nicht mehr zurückgezogen und unter Vorbehalt von Art. 333 StPO nicht mehr geändert werden. Allfällige Prozesshindernisse vorbehalten, kann eine beschuldigte Person nach Beginn des gerichtlichen Beweisverfahrens daher nur noch freigesprochen oder schuldig erklärt werden. Der Staatsanwaltschaft ist es somit nicht möglich, die Anklage z.B. bei einem sich vor Gericht abzeichnenden Freispruch zurückzuziehen (BGE 144 I 234 E. 5.6.3 mit Hinweisen). Die Abweichung vom Anklageprinzip darf nicht zur Regel werden (vgl. Urteile 6B_135/2022 vom 28. September 2022 E. 2.1.1; 6B_819/2018 vom 25. Januar 2019 E. 1.3.2; 6B_690/2014 vom 12. Juni 2015 E. 4.2; je mit Hinweisen; zustimmend MANON SIMEONI, La modification de l’acte d’accusation au sens de l’art. 333 al. 1 CPP, in: ZStrR 138/2020 S. 200). Der Ausnahmecharakter von Art. 333 Abs. 1 StPO bzw. der Umstand, dass die Anwendung dieser Norm die Durchbrechung des Immutabilitätsprinzips zur Folge hat, spricht ebenfalls gegen eine weite Auslegung dieser Bestimmung.
Ferner erscheint eine zu extensive Auslegung von Art. 333 Abs. 1 StPO auch unter dem Aspekt, dass das Sachgericht gewissermassen die Rolle der Anklage einnimmt, wenn es diesen Artikel anwendet, als problematisch. Dem Sachgericht ist es untersagt, die Rolle der Anklage zu übernehmen (BGE 148 IV 124 E. 2.6.7 mit Hinweis auf BGE 144 I 234 E. 5) [E. 3.4.4, Hervorhebungen durch mich].
Auf den konkreten Fall angewendet heisst dass im Ergebnis, dass Unterlassungen der Staatsanwaltschaft keine gerichtlichen Pflichten nach sich ziehen:
Die Unterlassung der Staatsanwaltschaft, in der Anklageschrift alle tatsächlichen Feststellungen darzulegen, aus denen sich allenfalls die Pflichtwidrigkeit des inkriminierten Verhaltens ergeben könnte, kann somit nicht zur Verpflichtung des Gerichts führen, ihr Gelegenheit zur Anklageänderung zu geben (so schon Urteil 6B_963/2015 vom 19. Mai 2016 E. 1.5; zustimmend EICKER/MANGO-MEIER, Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2017, N. 23 S. 130 f.) [E. 3.5, Hervorhebungen durch mich].
Spannendes Urteil! Wäre allenfalls eine Rückweisung zur Anpassung der Anklage an das neue Beweisergebnis gestützt auf Art. 329 Abs. 2 StPO möglich gewesen? Siehe dazu das ebenfalls kürzlich publizierte Urteil BGer 6B_941/2022 E. 2.2.1
Ich check die rückweisung nicht ganz. Dem beschuldigten wurde ja nur vorgeworfen, sorgfaltswidrig nach rechts geschaut zu haben. Von diesem vorwurf wurde er freigesprochen und anderes war nicht gegenstand und darf gemäss urteil auch nicht gegenstand sein. Warum wird jetzt trotzdem zurückgewiesen, um die kausalitätsfrage erneut zu prüfen? Kann mich da jmd. aufklären?
Weil das Bundesgericht die Begründung der Vorinstanz betr. Verneinung der Kausalität zwischen Seitenblick und Unfalltod als mangelhaft beurteilt hat.