Äusserst grosszügiges Bundesgericht

In meinem Blog kritisiere ich immer wieder Behörden, die Beschuldigte an Formfehlern aufhängen. Heute stellt das Bundesgericht ein Urteil ins Netz (BGer 6B_458/2013 vom 04.11.2013), das allenfalls für die unerklärliche Milde zu kritisieren wäre.

Nach diesem Urteil verfasste ein Verurteilter nach Zugang des Urteilsdispositivs zwei Schreiben an den erstinstanzlichen Richter. Im ersten verlangte er die schriftliche Urteilsbegründung, im zweiten erklärte er die Berufung. Nach Zustellung der schriftlichen Urteilsbegründung reagierte er nicht mehr, obwohl er gemäss Rechtsmittelbelehrung (erneut) eine Berufungserklärung einzureichen hatte. Die verfrühte Berufungserklärung wurde als Berufungsanmeldung entgegen genommen, weshalb das Dossier dem Berufungsgericht zugestellt wurde. Die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts nahm sodann telefonischen Kontakt mit dem Verteidiger auf und wies ihn auf die fehlende neuerliche Berufungserklärung hin. Dieser machte geltend, er habe ja die Berufung bereits erklärt, womit das Verfahren seinen Gang nehme. Er werde sich aber noch melden. Dies tat er dann nicht und das Berufungsgericht trat auf die Berufung nicht ein.

Das Bundesgericht bestätigt die Auffassung des Berufungsgerichts, heisst die dagegen gerichtete Beschwerde aber dennoch gut. Der Beschwerdeführer habe nach Treu und Glauben davon ausgehen dürfen, das Berufungsverfahren werde trotz des Formfehlers durchgeführt. Das dürfte nicht leicht verständlich sein und wird auch nicht verständlicher, wenn man die Begründung dazu liest:

Aus der Aktennotiz und der Vernehmlassung ergibt sich, dass der Beschwerdeführer respektive sein Verteidiger entgegen der Ausführungen im angefochtenen Urteil zwei Mal zum Ausdruck gebracht hat, mit dem erstinstanzlichen Urteil nicht einverstanden zu sein. Dass die Sache nochmals durch das Berufungsgericht beurteilt werden solle, hat er zunächst schriftlich gegenüber dem erstinstanzlichen Gericht und später innert der noch laufenden 20-tägigen Frist von Art. 399 Abs. 3 S. 1 StPO telefonisch gegenüber der Vorinstanz als Berufungsgericht bekräftigt. Auch wenn unverständlich ist, warum der Verteidiger sich entgegen seiner Ankündigung und in Kenntnis, dass “etwas falsch gelaufen sei”, nicht mehr meldete und versäumte, die Berufungserklärung  schriftlich nachzureichen, war für die Verfahrensleitung aufgrund des Telefonats offensichtlich, dass der Beschwerdeführer die Durchführung des Berufungsverfahrens wünschte. Wenn sie die bereits bei den Akten liegende und inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen einer Berufungserklärung gemäss Art. 399 Abs. 3 StPO genügende Eingabe an das erstinstanzliche Gericht trotz der mündlichen Bekräftigung, an der Berufung festzuhalten, für nicht ausreichend erachtete, hätte sie dies dem Verteidiger angesichts der unklaren Situation kundtun und ihm eine Frist zur Einreichung einer schriftlichen Berufungserklärung setzen müssen. Unter den konkreten Umständen durfte der Beschwerdeführer nach Treu und Glauben davon ausgehen, das Berufungsverfahren werde (trotz des Formfehlers) ohne weitere Prozessverfügungen seitens der Verfahrensleitung durchgeführt. Der angefochtene Entscheid ist deshalb aufzuheben (E. 1.4.2).

Übrigens: Das fragliche Telefonat erging nach der Sachverhaltsdarstellung des Bundesgerichts nicht innert der 20-tägigen Frist von Art. 399 Abs. 3 StPO. Das fristauslösende motivierte Urteil der ersten Instanz wurde dem Beschwerdeführer am 11. Februar 2013 zugestellt. Das fragliche Telefonat erging über einen Monat später, nämlich am 13. März 2013. Ich schliesse daraus, dass

  • ich falsch rechne, oder
  • die Datumsangaben im Urteil des Bundesgerichts nicht stimmen, oder
  • bei diesem Entscheid sonst was nicht stimmt UND DASS
  • es jedenfalls keine zum Vornherein aussichtslosen Beschwerden gibt.