Aktenfiktion erneut kassiert
In der Schweiz ist es möglich, von einem Staatsanwalt u.a. zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt zu werden, ohne dass man davon überhaupt erfährt. Möglich macht das die sog. Aktenfiktion. Dabei handelt es sich um eine besondere Form der Zustellfiktion. Sie gründet auf der Einwilligung der Beschuldigten (in der Regel durch ein Kreuz auf einem Formular der Polizei, das er nicht verstanden hat), dass ihnen der Strafbefehl bei der Staatsanwaltschaft zugestellt werden kann. Der Strafbefehl wird dann also einfach ins Dossier gelegt und gilt damit als zugestellt. Es würde mich nicht wundern, wenn die Gewährung des Zustelldomizils am Ende auch noch zu den Verfahrenskosten geschlagen würde. Der „Verurteilte“ erfährt von seiner Verurteilung dann bei seiner Festnahme, die aber natürlich erst erfolgt, nachdem die Einsprachefrist verstrichen ist. Das Bundesgericht hat sich dazu bereits geäussert (vgl. dazu BGE 147 IV 518 E. 3.5).
In einem solchen Fall pfeift das Bundesgericht nun auch die Justiz des Kantons Jura zurück, welche eine nachträgliche Einsprache gegen den ins Dossier gelegte Strafbefehl als verspätet qualifiziert hat (manche Richterinnen und Richter sind sich wirklich für gar nichts zu schade; BGer 6B_171/2024 vom 04.09.2024).
Im vorliegenden Fall wollte man dem Betroffenen dann auch noch entgegenhalten, er habe durch Kenntnis seines Strafegisterauszugs auch Kenntnis des darin ersichtlichen Strafbefehls erhalten. Das konnte das Bundesgericht aber nicht durchlassen:
Il apparaît qu’après avoir contacté le ministère public et fait „opposition“ à l’ordonnance pénale du 15 octobre 2020, le mandataire du recourant, au bénéfice d’une procuration comportant une clause d’élection de domicile en faveur de son étude, a reçu une copie de l’ordonnance pénale précitée par courrier du ministère public daté du 14 octobre 2022. La réception de ce document est déterminante pour l’examen du respect du délai d’opposition, dès lors qu’il permettait au recourant, par le biais de son mandataire, de prendre connaissance du contenu de l’ordonnance pénale, de son dispositif et, en particulier, de ses motifs. La lecture d’une inscription figurant au casier judiciaire n’est, à tout le moins au regard de son contenu (cf. art. 20 al. 1 de la loi fédérale du 17 juin 2016 sur le casier judiciaire informatique VOSTRA [Loi sur le casier judiciaire, LCJ; RS 330], ainsi que l’art. 10 al. 1 et l’annexe 1 de l’ancienne ordonnance sur le casier judiciaire [Ordonnance VOSTRA; RO 2018 4779]), pas suffisante à cet égard.
Dès lors que le mandataire a, par courrier du 17 octobre 2022, confirmé l’opposition à l’ordonnance pénale formée le 13 octobre 2022, ladite opposition a été formée dans le délai légal de dix jours prévu par l’art. 354 al. 1 CPP. Aucun retard ne peut être reproché au recourant. L’opposition a ainsi à tort été jugée irrecevable pour cause de tardiveté (E. 2.4).
Wir könnten das ganze Rechtswesen fiktieren, viel mehr als Fiktion ist es ja nicht mehr, ausser für den betroffenen, das wäre natürlich schade für die Anwälte, aber brauchen tun wir dieses Theater nicht mehr, es ist durch die ganze Gesetzesbreite einfach alles nur noch eine Lächerlichkeit in der es darum geht die Bürger zu melken, Rechte hat er sowieso keine. Dort wo welche zugestanden werden geht es nur darum das Scheinbild des Rechtstaates aufrecht zu erhalten, das nicht noch der dümmste erwacht, denn wenn 99% aufbegehren wird es gefährlich für die Helfers Helfer, die günstlinge und Profiteure
Ergänzend zu den bereits von KJ im hier behandelten Beitrag dargestellten Ausführungen erscheint mir insb. folgende „Take-Home-Message“ von Bedeutung, gerade mit Blick auf Fälle, in denen Beschuldigte ihren Wohnsitz im Ausland haben und kein Zustelldomizil in der Schweiz vorliegt.
Das BGer stellt fest, dass der Beschuldigte zwar formell ein Zustelldomizil gemäss Art. 87 Abs. 2 StPO gewählt hat (die Adresse der Staatsanwaltschaft). Es prüft jedoch die Gültigkeit dieser Wahl im Lichte der Grundrechte und der Rechtsprechung, wie bereits oben erwähnt, insb. mit Bezug auf BGE 147 IV 518.
Das BGer kommt zum Schluss, dass diese Praxis nicht zulässig ist, und zwar im Wesentlichen aus nachfolgenden Gründen:
Unzumutbare Belastung: Es stellt für einen im Ausland (hier Kosovo) wohnhaften Beschuldigten einen unzumutbaren Aufwand („efforts démesuré“) dar, sich ständig bei der Staatsanwaltschaft erkundigen zu müssen, ob ein Strafbefehl ergangen ist, nur um die kurze 10-Tages-Frist für die Einsprache nicht zu verpassen. Der Beschuldigte rügte zurecht, man müsste quasi täglich oder wöchentlich anrufen, was unrealistisch ist.
Zustellfiktion: Diese Praxis schafft eine „Zustellfiktion“ („fiction de notification“) im Moment des Erlasses des Strafbefehls durch die Staatsanwaltschaft. Der Beschuldigte hat aber keine tatsächliche Kenntnis.
Unzulässiger Verzicht auf Einsprache: Eine solche „Domizilwahl“ („élection de domicile“) kommt faktisch einem Verzicht auf das Einspracherecht gleich. Ein gültiger Verzicht auf Rechtsmittel (analog Art. 386 StPO) setzt aber voraus, dass der Betroffene den Entscheid zuerst korrekt zugestellt kriegt und zur Kenntnis genommen hat (BGE 147 IV 518 E. 3.5). Man kann nicht im Voraus auf ein Recht verzichten, dessen Ausübung an einen zukünftigen, ungewissen Akt (Erlass des Strafbefehls) geknüpft ist, von dem man nicht rechtzeitig erfahren kann.
Verletzung der Rechtsweggarantie: Die Einsprache ist das zentrale Instrument, um die Vereinbarkeit des Strafbefehlsverfahrens (das ohne Gericht abläuft) mit der Rechtsweggarantie (Art. 29a BV, Art. 6 EMRK) sicherzustellen. Diese Garantie wird ausgehöhlt, wenn die Möglichkeit zur Einsprache durch eine solche Zustellfiktion vereitelt wird.
Verlagerung der Zustelllast: Die Pflicht zur korrekten Zustellung liegt gemäss ständiger Rechtsprechung bei der Behörde (BGE 144 IV 57). Die Domizilwahl bei der Staatsanwaltschaft würde diese Last in unzulässiger Weise auf den Beschuldigten abwälzen.
Fazit: Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die in casu erfolgte Domizilwahl nicht mit Bundes- und internationalem Recht vereinbar war. Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Strafbefehl vom 15. Oktober 2020 am Tag seines Erlasses durch die Staatsanwaltschaft rechtsgültig zugestellt wurde. Die Frage, ob der Beschuldigte über die Konsequenzen der Domizilwahl ausreichend informiert wurde, kann offen bleiben. Ebenso erübrigt es sich zu prüfen, ob der Beschuldigte vernünftigerweise damit rechnen durfte, dass ihm der Strafbefehl an das gewählte Domizil zugestellt würde, oder ob er nach dem Grundsatz von Treu und Glauben die von ihm zu erwartenden Schritte unternommen hat, um sich über die an das gewählte Domizil gerichteten Akten zu informieren.