Aktenführungs- und Dokumentationspflicht

Einem heute online gestellten Entscheid des Bundesgerichts sind dessen Anforderungen an die Aktenführungs- und Dokumentationspflicht zu entnehmen (BGer 6B_1283/2020 vom 20.12.2022, Fünferbesetzung). Diesen Anforderungen genügte das Obergericht ZH erneut nicht und weist zum zweiten Mal zurück (vgl. den ersten Rückweisungsentscheid BGer 6B_1368/2017 vom 14.06.2018, Fünferbesetzung).

Hier zuerst ein Teil der rechtlichen Grundlage für den Entscheid, der mir besonders wichtig erscheint und der allzu oft nicht erfüllt wird:

Die effektive Wahrnehmung dieses Anspruchs setzt notwendigerweise voraus, dass die Akten vollständig sind. In einem Strafverfahren bedeutet dies, dass die Beweismittel, jedenfalls soweit sie nicht unmittelbar an der gerichtlichen Hauptverhandlung erhoben werden, in den Untersuchungsakten vorhanden sein müssen und dass aktenmässig belegt sein muss, wie sie produziert wurden. Damit soll die beschuldigte Person in die Lage versetzt werden zu prüfen, ob sie inhaltliche oder formelle Mängel aufweisen und gegebenenfalls Einwände gegen deren Verwertbarkeit erheben kann. Dies ist Voraussetzung dafür, dass sie ihre Verteidigungsrechte überhaupt wahrnehmen kann, wie dies Art. 32 Abs. 2 BV verlangt (vgl. BGE 129 I 85 E. 4.1; Urteile 6B_324/2021 vom 7. April 2022 E. 2.1; 6B_403/2018 vom 14. Januar 2019 E. 2.3.1; 6B_376/2018 vom 25. September 2018 E. 5.1; 6B_1368/2017 vom 14. Juni 2018 E. 2.3).

Die Anklagebehörde muss dem Gericht sämtliches Material zuleiten, das mit der Tat als Gegenstand eines gegen eine bestimmte Person erhobenen Vorwurfs in thematischem Zusammenhang steht. Sie muss dem Gericht und der beschuldigten Person respektive der Verteidigung sämtliche Spurenvorgänge zur Kenntnis bringen, die im Verfahren – und sei es auch nur mit geringer Wahrscheinlichkeit – Bedeutung erlangen können. Die Ermittlungs- und Untersuchungsbehörden dürfen grundsätzlich kein von ihnen erhobenes oder ihnen zugekommenes Material zurückbehalten, das einen Bezug zur Sache hat. Die Dokumentationspflicht gilt auf allen Verfahrensstufen, also auch bereits im polizeilichen Ermittlungsverfahren (Urteile 6B_1094/2019 vom 25. Juni 2020 E. 1.3.1; 6B_403/2018 vom 14. Januar 2019 E. 2.3.1; 6B_1368/2017 vom 14. Juni 2018 E. 2.3 mit Hinweis). Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch ergebnislose oder unergiebige Ermittlungen in ihrem negativen Ausgang einen für die Urteilsfällung relevanten Gehalt aufweisen können. Auf eine Einverleibung der unergiebigen Aufzeichnungen in die Akten kann jedoch verzichtet werden, wenn die Tatsache der erfolglosen Überwachung in den Akten vermerkt ist (Urteile 6B_403/2018 vom 14. Januar 2019 E. 2.3.1; 6B_1368/2017 vom 14. Juni 2018 E. 2.3; MARKUS SCHMUTZ, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 14 zu Art. 100 StPO; DETLEF KRAUSS, Der Umfang der Strafakte, BJM 1983 S. 49 ff., 62). Wichtig ist, dass sich aus der Hauptakte der Bestand der verhandlungsrelevanten Beiakten jederzeit feststellen lässt und die richterliche Verfahrensgestaltung ebenso wie die Gewährung von Akteneinsicht diese zusätzlichen Materialien einbezieht (KRAUSS, a.a.O., S. 62; Urteile 6B_403/2018 vom 14. Januar 2019 E. 2.3.1; 6B_1368/2017 vom 14. Juni 2018 E. 2.3; je mit Hinweisen). 

Den Parteirechten ist im Zusammenhang mit den ausgesonderten Aufzeichnungen der Fernmeldeüberwachung Rechnung zu tragen. Die beschuldigte Person hat das Recht, den Archivdatenträger mit den Aufzeichnungen der Fernmeldeüberwachung nach den Vorgaben von Art. 101 f. StPO einzusehen, um sich anhand der Gesprächsaufzeichnungen ein Bild über die von den Strafbehörden vorgenommene Triage zu machen (ausführlich hierzu Urteile 6B_1188/2020 vom 7. Juli 2021 E. 1.1.3; 6B_403/2018 vom 14. Januar 2019 E. 2.3.2 ff. mit Hinweisen). [E. 3.4.1, Hervorhebungen durch mich].

Im vorliegenden Fall wurden im Berufungsverfahren neue Übersetzungen von Überwachungsaudios erstellt. Diese muss der Beschwerdeführer im neuen Verfahren inhaltlich prüfen können:

Als zutreffend erweist sich hingegen der Einwand des Beschwerdeführers, dass die frühere Akteneinsicht nichts daran ändert, dass es ihm nicht möglich ist, die im Rahmen des zweiten Berufungsverfahrens neu erhaltenen Übersetzungen von Audiogesprächen materiell zu überprüfen. Die Vorinstanz wird dem Beschwerdeführer und/oder seinem Verteidiger im neuen Berufungsverfahren die Möglichkeit gewähren müssen, die im Rahmen des zweiten Berufungsverfahrens neu übersetzten Audiogespräche, die sie verwenden will, anzuhören und das entsprechende Protokoll inhaltlich zu kontrollieren (E. 3.5.5).