Altlasten am Obergericht Aargau

In einem heute publizierten Entscheid hielt es die Vorinstanz trotz der auf 55 Monate verlängerten Freiheitsstrafe nicht für notwendig, den Beschuldigten persönlich zu befragen (BGer 6B_865/2019 vom 04.06.2020).

Weder in tatsächlicher noch in sanktionsrechtlicher Hinsicht kann von einem einfachen Fall i.S.v. Art. 406 Abs. 2 lit. a StPO gesprochen werden, der die Anwesenheit und persönliche Befragung des Beschwerdeführers entbehrlich gemacht hätte (Urteile 6B_1189/2018 vom 12. September 2019 E. 2.1.1). Darüber hinaus trifft die Staatsanwaltschaft aufgrund ihrer Anschlussberufung eine (zwingende) Teilnahmepflicht, die nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers – ebenso wie das selbstständig verankerte Verschlechterungsverbot (Verbot der „reformatio in peius“) – verhindern soll, dass die beschuldigte Person von der Ergreifung der Berufung abgehalten wird. Die Vorinstanz durfte die Anschlussberufung mithin nicht im schriftlichen Berufungsverfahren behandeln (vgl. Urteil 6B_606/2018 vom 12. Juli 2018 E. 3.2). Soweit der Beschwerdeführer seine Berufung nicht zurückzieht, womit auch die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft dahinfallen würde (vgl. Art. 401 Abs. 3 StPO), wird die Vorinstanz mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 406 StPO eine mündliche Hauptverhandlung durchführen müssen, um die Berufung und Anschlussberufung behandeln zu können (E. 3.1). 

Interessant und für mich neu ist übrigens auch die oben zitierte Überlegung, dass die Teilnahmepflicht der Staatsanwaltschaft verhindern soll, die Beschuldigte Person von der Ergreifung der Berufung abzuhalten.

Im konkreten Fall wird der Beschwerdeführer allenfalls darüber nachdenken, die Berufung zurückzuziehen.