Änderung / Erweiterung der Anklage auch noch im Berufungsverfahren
Gemäss einem neuen Bundesgerichtsurteil klagte die Staatsanwaltschaft einen nicht schuldfähigen Beschwerdeführer wegen versuchter einfacher Brandstiftung an (Art. 221 Abs. 1 StGB). Die erste Instanz stellte dagegen in offensichtlicher Verletzung des Anklageprinzips fest, der Beschwerdeführer habe den Tatbestand der qualifizierten Brandstiftung erfüllt. Im Berufungsverfahren gab das Obergericht der Staatsanwaltschaft Gelegenheit, die Anklage zu ändern, was diese auch tat, indem sie die Anklage mit folgendem Nebensatz ergänzte:
“womit er (der Beschwerdeführer) auch eine Lebensgefahr für die Hausbewohner verursachen wollte, wozu es aber letztlich nicht kam”
Danach – und erst danach – konnte die Vorinstanz das erstinstanzliche Urteil bestätigen. Der Sachverhalt wirft Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf, was das Bundesgericht (BGer 6B_777/2011 vom 10.04.2012) aber ganz offensichtlich nicht so sieht. Es machte daraus einen einfachen 0815-Fall, den es m.E. falsch entscheidet (wobei ich die Beschwerdeschrift und die darin vorgetragenen Rügen natürlich nicht kenne).
Das Bundesgericht sieht im Vorgehen der Vorinstanz keine Verletzung des Anklageprinzips und weist die Beschwerde (als von vornherein aussichtslos!) ab. Eine “Ergänzung” der Anklage sei nach Art. 379 StPO auch noch an der Berufungsverhandlung möglich. Im Weiteren macht es folgende Feststellungen, die noch zu heftigen Diskussionen Anlass geben müssten:
Eine Ergänzung der Anklage kommt auch in Betracht, wenn das Gericht der Ansicht ist, der in der Anklage umschriebene Sachverhalt erfülle eine qualifizierte Variante des angeklagten Tatbestands, in der Anklage jedoch nur der Grundtatbestand dargestellt wird, während eine Darstellung des Qualifikationsmerkmals fehlt. In diesem Fall kann die Staatsanwaltschaft eingeladen werden, den Sachverhalt der Anklage in Bezug auf das Qualifikationsmerkmal zu ergänzen (E. 2).
Das Bundesgericht differenziert m.E. nicht scharf genug zwischen Ergänzung, Erweiterung und Änderung der Anklage. Es spricht von Ergänzung der Anklage, obwohl es sich offensichtlich nicht um eine Ergänzung handelt (dazu Art. 329 Abs. 2 StPO). Es verkennt m.E. insbesondere, dass der Einbezug eines Qualifikationsmerkmals ohne Änderung des in der Anklage enthaltenen Sachverhalts zumindest im vorliegenden Fall nicht möglich ist. Die Staatsanwaltschaft hatte ursprünglich keine wissentliche Gefährdung der Hausbewohner eingeklagt. Diese Gefährdung, die dann nach Intervention des Obergerichts in die Anklage einfloss, ist doch aber eine Änderung des Anklagesachverhalts und verletzt das Immutabilitätsprinzip.
Das Bundesgericht scheint all dies einfach unter dem Aspekt des rechtlichen Gehörs zu beurteilen. Der Beschwerdeführer wusste ja, was ihm blühte:
Der Beschwerdeführer wusste seit der Verhandlung vor Bezirksgericht, dass dieses den Sachverhalt eventuell als qualifizierte Brandstiftung würdigen würde (…). Und seit dem Erhalt des bezirksgerichtlichen Urteils wusste er, dass das Bezirksgericht davon ausging, er habe durch die Entzündung von Benzin im Heizungsraum eines Mehrfamilienhauses und den hernach sich allein überlassenen Brandherd wissentlich und willentlich einen Zustand der abstrakten Gefährdung von Leib und Leben geschaffen (…). Bereits in seiner Berufungserklärung vom 20. Juni 2011 machte der Beschwerdeführer denn auch geltend, die Annahme im Urteil des Bezirksgerichts, er habe eine versuchte Brandstiftung im Sinne von Art. 221 Abs. 2 StGB begangen, sei rechtlich unzutreffend und unbewiesen (…). An der Berufungsverhandlung begründete die Verteidigung die Rüge schon vor der Änderung der Anklage ausführlich (…). Im Anschluss an die Anklageänderung erteilte das Gericht der Verteidigung nochmals das Wort (…). Unter den gegebenen Umständen konnte sich der Beschwerdeführer zur ergänzten Anklage im Berufungsverfahren hinreichend äussern (E. 2).
Dass er dafür nur noch eine Instanz hatte, interessierte offenbar auch keinen. Nur am Rand stellt sich auch die Frage, wie ein Schuldunfähiger das Qualifikationsmerkmal der Brandstiftung erfüllen soll. Aber das Toupet bleibt, dass die Beschwerde als von vornherein aussichtslos qualifiziert wurde.
Gebe Ihnen vollkommen recht.
Die am Entscheid beteiligten Bundesrichter Schneider und Mathys sind dafür bekannt, dass sie sich keinen Deut ums Recht scheren. Mit solchen Urteilen kastrieren sie bewusst die rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien der Angeklagten.
Man kann dem Beschwerdeführer bzw. dessen Anwalt nur empfehlen, sich in Strassburg zu beschweren.
Danke, aber ich kann den Vorwurf an die beteiligten Richter nicht bestätigen und kann mir auch nicht vorstellen, dass er zutrifft. Ich bin kein Insider und kann daher nicht sagen, wie solche Entscheide zustande kommen. Eigentlich wissen wir ja nur, dass die Richter viel mehr Fälle entscheiden müssen als man es seriöserweise überhaupt kann. Es fragt sich daher, wer in Wahrheit die Weichen stellt und wie viel Zeit und Mühe sich die Richter geben, einen falsch aufgegleisten Fall wieder auf die richtige Schiene zurückzuführen. Und wir wissen übrigens ja auch nicht, wie die Fälle zugeteilt werden.
Als aktiver Strafverteidiger werden Sie sich optimalerweise nicht über das Verhalten einzelner Richter äussern?
Ob Ihre pauschale Absolution mit Begründung des Zeitmangels zutrifft wage ich zu bezweifeln….
Die Kritik am Urteil ist bgerechtigt. Dass eine Änderung/Erweiterung der Anklage auch im Rechtsmittelverfahren, also vor Berufungsgericht, möglich sei, dafür beruft sich das Bundesgericht auf Schmid und BSK-StPO. Schmid macht dazu keine präzise Aussage, sondern verweist dazu bloss auf Art. 379, wonach die Bestimmungen über das erstinstanzliche sinngemäss auch für das Berufungsverfahren gelten. Wie das Gesetz sagt, gilt das eben bloss sinngemäss und die Frage stellt sich, ob das noch geht.
Soweit sich das Bundesgericht auf den BSK-StPO, Zalunardo/Walser, beruft, erweist sich dieses Zitat als falsch, bei Art. 333 N 7 steht zur Anklageänderung vor Berufungsinstanz auf jeden Fall kein Wort.
Überhaupt nicht auseinandergesetzt hat sich das Bundesgericht mit der Frage, inwiefern dieses Vorgehen (Anklageänderung im Berufungsverfahren) mit dem Verbot der reformatio in peius vereinbar ist. Weitergezogen wurde das Urteil des Bezirksgerichts offenbar nur vom Beschwerdeführer und er rügte ja offenbar zu recht, dass das Bezirksgericht ohne Anklageänderung/-ergänzung den qualifizierten Tatbestand annahm, was es unstreitig nicht durfte. Die Berufung erfolgte somit zurecht. Berufung erklärt hat allerdings bloss der Verurteilte, also durfte das Urteil nicht zu seinen Ungunsten abgeändert werden, was das Obergericht aber offenkundig tat, indem es das Versäumte nachholte, was mindestens faktsich einer reformatio in peius gleichkommt.
Es liegt sicher keine Verletzung des Verschlechterungsverbots vor. Gemäss Art. 391 Abs. 2 StPO darf das Berufungsgericht einen Entscheid nicht zum Nachteil des Beschuldigten abändern, wenn nur er ein Rechtsmittel ergriffen hat. Das Berufungsgericht hat hier keine höhere Strafe ausgesprochen, ja nicht einmal eine andere Qualifikation vorgenommen.
Es liegt doch eine reformatio in peius vor, wenn das Berufungsgericht die erstinstanzliche Veruteilung nur dadurch “retten” kann, wenn sie eine Verschlechterung der Situation des Berufungsklägers (=Beschuldigter) herbeiführt. An sich müsste das Berufungsgericht gutheissen, weil keine Ergänzung der Anklage vorgenommen wurde. Nun wird diese vor Berufungsgericht vorgenommen, waber eben zulasten des Brufungsklägers, und damit liegt eine reformatio in peius klar vor.
Es wurde nicht die Anklage sondern “der in der Anklage umschriebene Sachverhalt” ergänzt. Neu wurde – als Sachverhaltselement – aufgenommen, was der Beschudligte bezwecken wollte. Eine solche Ergänzung des Sachverhaltes widerspricht Art. 333 StPO offenkundig. Die Frage, ob eine Anklageänderung auch noch im Berufungsverfahren möglich ist stellt sich damit gar nicht. Das Bundesgericht zitiert den Gesetzestext richtig, weiss aber nicht mehr, was zum Sachverhalt gehört.