Angst vor Recht?
Manchmal werde ich den Eindruck nicht los, dass es die Justiz Angst davor hat, strikt nach rechtlichen Kriterien zu entscheiden und die Verantwortung für möglicherweise missliebige Rechtsfolgen lieber auf andere Instanzen schiebt.
Das gilt nicht nur, aber insbesondere in Haftsachen, in denen die Justiz sich schier verbiegt, um Beschuldigte trotz fehlenden Haftgrunds nicht (selbst) entlassen zu müssen. Das funktioniert dann nach folgendem Muster:
- Haftgericht: wir bewilligen die Untersuchungshaft für 3 Monate. Es gibt keinen Grund, von diesem Standard abweichen zu müssen, zumal die Staatsanwaltschaft ja wirklich nur in zwingenden Fällen Haft beantragt. Wer nicht einverstanden will, kann ja Rechtsmittel einlegen.
[Im nachfolgend zitierten Entscheid hatte das Haftgericht SO den Haftantrag abgewiesen, was kaum je vorkommt (in einzelnen Kantonen nie). Die Beschwerdekammer des Obergerichts SO eilte der beschwerdeführenden Staatsanwaltschaft dann aber zu Hilfe und bewilligte die 3 Monate].
- Beschwerdeinstanz: wir weisen die Beschwerde mal ab (es sei denn sie komme von der Staatsanwaltschaft), obwohl die Haftgründe eigentlich nicht vorliegen. Wer nicht einverstanden ist, kann ja ein Rechtsmittel einlegen, was er vermutlich aber schon deshalb nicht tun wird, weil er damit kaum etwas erreichen kann.
Bundesgericht: die Beschwerdeinstanz hat zwar Bundesrecht verletzt, aber wir geben ihr eine weitere Chance, die Haftgründe nochmals bundesrechtskonform zu prüfen und nachvollziehbar zu begründen. Ob der Beschuldigte dann allenfalls doch entlassen werden muss, überlassen wir ihr. Wir mischen uns da nicht ein. Wir sind nur für das Recht verantwortlich und dieser Verantwortung genügen wir, wenn wir feststellen, das Recht sei verletzt. Für die Folgen sind wir nicht zuständig.
Das tönt dann beispielsweise so (BGer 1B_347/2022 vom 14.07.2022):
Die Begründung des angefochtenen Entscheids ist aus diesen Gründen unzureichend, um im Licht der dargelegten bundesgerichtlichen Praxis die Bejahung der Wiederholungsgefahr durch die Vorinstanz nachzuvollziehen. Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, deren Versäumnisse nachzuholen, weshalb der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen ist. Da der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nicht offensichtlich zu verneinen ist, kommt andererseits eine Haftentlassung derzeit nicht in Betracht. Das Obergericht wird im Rahmen seiner erneuten Befassung mit der Sache Gelegenheit haben, sich bei der Staatsanwaltschaft nach dem Stand der Begutachtung des Beschwerdeführers zu erkundigen, insbesondere da mit Blick auf das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot die Einholung eines Kurz- oder Vorabgutachtens angezeigt sein kann (BGE 143 IV 9 E. 2.8 mit Hinweisen) [E. 6.4].
Im zitierten Fall hatte der Beschwerdeführer übrigens den Ausstand des präsidierenden Richters der Beschwerdekammer geltend gemacht, da dieser gegen den vertieft geprüften Entscheid des Haftgerichts den Haftgrund der Wiederholungsgefahr aufgrund bloss summarischer Prüfung bejaht und der Beschwerde der Staatsanwaltschaft die aufschiebende Wirkung erteilt hatte. Gerettet hat den Richter, dass seine Prüfung eben nur summarisch war; gemäss Bundesgericht aber dennoch ein Grenzfall:
Da das Vorbringen des Beschwerdeführers den Ausstand von Oberrichter Müller von vornherein nicht zu begründen vermochte, musste kein Ausstandsverfahren nach Art. 59 StPO durchgeführt werden (vgl. Urteile 2C_466/2020 [recte: 2010] vom 25. Oktober 2010 E. 2.3.3; 1B_275/2018 vom 28. Juni 2018 E. 2.2; 2F_12/2008 vom 4. Dezember 2008 E. 2.1; je mit Hinweisen [alle m.E. nicht einschlägig]). Die Rüge der Verletzung dieser Bestimmung ist deshalb unbegründet. Allerdings handelt es sich um einen Grenzfall. Wäre der Beschwerdeführer auf die konkrete Begründung der Verfügung vom 16. Mai 2022 eingegangen, hätte die Ausstandsfrage dem Berufungsgericht zum Entscheid vorgelegt werden müssen. Ein solches Vorgehen verzögert das Haftverfahren nicht, da gemäss Art. 59 Abs. 3 StPO die betroffene Person ihr Amt bis zum Entscheid über den Ausstand weiter ausübt (E. 2.2, Hervorhebungen durch mich).
Das Problem ist, dass Juristen grundsätzlich “Weicheier” sind und sie sich davor fürchten, echte Verantwortung zu übernehmen.