Anklageprinzip! Anklageprinzip?
Vom äusserlich wahrnehmbaren Sachverhalt kann man bisweilen auf den subjektiven Tatbestand schliessen. Wie man das aber machen kann, wenn man den Sachverhalt gar nicht kennt, ist mir ein Rätsel. Das Bundesgericht sieht es mit dem Obergericht ZH weniger eng, was aus seiner Auseinandersetzung mit einer Rüge der Verletzung des Anklageprinzips zu schliessen ist (BGer 6B_19/2021 vom 27.09.2021):
Aus der vorstehenden Anklage ergeben sich die gegen den Beschwerdeführer erhobenen analogen Vorwürfe in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht hinreichend klar. Entgegen seiner anscheinend vertretenen Auffassung werden ihm weder im einen noch im andern Fall gezielte Tritte gegen den Kopf des Opfers vorgeworfen, sondern solches wird angesichts des dynamischen Geschehens vielmehr als naheliegend umschrieben. Es schadet daher nicht, dass in der Anklage von keinen expliziten Tritten gegen den Kopf die Rede ist resp. das “Zielgebiet” der Tritte nicht näher spezifiziert wird. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass die Tathandlung nur ungenügend umschrieben worden wäre. Ebenso wenig ist der Anklagegrundsatz verletzt, weil die Anklage die tatsächlichen Verletzungen des Opfers nicht nennt. Der Beschwerdeführer scheint zu verkennen, dass der Vorwurf auf versuchte schwere Körperverletzung lautet und zwar offensichtlich als mögliche, von ihm in Kauf genommene Folge mehrerer ungezielter Tritte durch ihn oder einen Mitbeschuldigten. Dies im Rahmen eines hochdynamischen, mithin einigermassen unkontrollierbaren Geschehens. Auf welche Weise und in welcher Form die schweren Verletzungen am Kopf hätten eintreten können – nämlich infolge eines Schädelbruchs, oder eines Schädelhirntraumas mit Hirnblutung -, wird in der Anklage hingegen deutlich beschrieben. Der Einwand des Beschwerdeführers, wonach sich seine Tritte gemäss verbindlicher Darstellung in der Anklage ausdrücklich nicht gegen den Kopf des Opfers gerichtet hätten, geht offensichtlich fehl. Zum einen ergibt sich dies aus der Anklage gerade nicht. Zum andern obliegt die Würdigung des Anklagesachverhalts ausschliesslich dem urteilenden Gericht (Art. 350 Abs. 1 StPO). Ebenso ergibt sich aus der Anklage, namentlich der darin genannten Gesetzesbestimmung des Art. 122 StGB, klar, dass dem Beschwerdeführer nicht bloss einfache, sondern versuchte schwere Körperverletzungen vorgeworfen werden. Er konnte sich denn auch ohne Weiteres gegen die erhobenen Vorwürfe und deren rechtliche Würdigung zur Wehr setzen und diese substanziiert bestreiten. Die Rüge ist unbegründet. Wie die in der Anklage umschriebenen Tatvorwürfe rechtlich zu würdigen sind, insbesondere auch, ob möglicherweise lebensgefährliche Tritte in der Kopfregion rechtsgenüglich erwiesen sind, ist keine Frage des Anklageprinzips, sondern stellt vom Sachgericht zu beurteilende Tat- und Rechtsfragen dar (E. 1.3).
Ja was wird ihm denn nun vorgeworfen? Tritte in die Kopfregion oder sind solche nur “naheliegend”? Oder ist entscheidend, dass man das in einem dynamischen geschehen gar nicht kontrollieren kann? Wieso ist es dann nicht versuchte Tötung? Wie soll man sich gegen eine solche Anklage verteidigen? Oder muss man das gar nicht können, weil die rechtliche Würdigung ja ohnehin Sache des Gerichts ist?
Bin sprachlos über die Ausführungen der Vorinstanz resp. deren Stützung durch das BGer (2.2.2):
„Auf der statischen Videoaufnahme sei nicht erkennbar, wohin die Tritte erfolgt seien. Auch seien die effektiven Verletzungen unbekannt. Die Tritte seien jedoch ohne Weiteres geeignet, Körperverletzungen, auch schwere Verletzungen an Kopf und Rumpf zu verursachen, zumal bei einer Vielzahl von Angreifern, die ein wehrlos am Boden liegendes Opfer aus allen Richtungen in der ersichtlich ungezügelten Weise attackierten.“
Gemäss dieser Rechtsprechung müssten Tritte – auch wenn nicht ersichtlich, wohin sie einschlagen – auf eine am Boden liegende Person zwingend als mögliche versuchte schwere Körperverletzung (in der Kopfregion) betrachtet werden. Dies hat nichts mit rechtlicher Würdigung des Anklagesachverhalts zu tun, sondern viel mehr mit Bestrafung gestützt auf Mutmassungen und Fantasien basierende Anklage. Ein Fehlentscheid, welcher als Freipass für übermotivierte Staatsanwälte dienen kann.
Ein völlig haltloses Urteil.
Entscheidend dürfte Folgendes gewesen sein:
“Zudem hat der Mitbeschuldigte (A.________) eingeräumt, das Opfer mindestens einmal am Kopf getroffen und gesehen zu haben, dass es dort blutete.”
(…)
“Die Vorinstanz verfällt auch nicht in Willkür, wenn sie als erstellt erachtet, dass ein Mitbeschuldigter das Opfer mindestens einmal am Kopf traf und, dass die Kopfverletzung von einem Tritt herrührt. Sie begründet dies überzeugend mit der vom Beschuldigten erkannten Kopfverletzung sowie dessen Eingeständnis, beim Treten übertrieben zu haben.”
(wobei insgesamt eine mittäterschaftliche Begehung einer versuchten schweren Körperverletzung angenommen wurde, was vertretbar sein kann)