Anklageprinzip gerade noch gewahrt

In einem heute online gestellten Entscheid (BGE 1P.761/2005 vom 12.04.2006) hatte sich das Bundesgericht mit dem Anklageprinzip nach der StPO des Kantons Graubünden zu befassen. Zunächst stellte es fest, dass die Anforderungen des bündnerischen Prozessrechts an die Anklageschrift nicht über die verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien hinaus gehen. Zum konkreten Fall führte es folgendes aus:

Im Anklagesachverhalt wird der Betrugsvorwurf zwar in der Tat nur knapp begründet, namentlich wird nicht ausdrücklich dargelegt, inwiefern das Verhalten der Beschwerdeführerin arglistig gewesen sein soll. Immerhin werden die schwierigen Lebenssituationen der Kundinnen explizit erwähnt. Ein solcher Hinweis in einer Betrugsanklage kann vernünftigerweise nur den Zweck haben aufzuzeigen, dass die Opfer auf Grund ihrer persönlichen Schwierigkeiten in ihrer Urteilsfähigkeit eingeschränkt waren und ihnen deswegen das “gesunde” Misstrauen gegenüber der Hilfe anbietenden Beschwerdeführerin fehlte. Damit ist der Vorwurf arglistigen Verhaltens – der Ausnützung der durch persönliche Notlagen begründeten besonderen Vertrauensseligkeit der Anruferinnen -, wie ihn das Kantonsgericht als erfüllt ansah, in der Anklageschrift gerade noch hinreichend abgesteckt, die Beschwerdeführerin wusste, was ihr vorgeworfen wurde und war damit in der Lage, sich gegen diesen Vorwurf zu verteidigen (E. 3.3).

Soweit kann man dem Urteil wohl folgen, auch wenn der volle Wortlaut der Anklageschrift nicht wiedergegeben wird und auch wenn man sich durchaus auch andere Gründe für den Hinweis auf die “schwierigen Lebenssituationen der Kundinnen” vorstellen kann. Noch schwieriger zu verstehen ist aber das anschliessende Argument:

Der Kantonsgerichtsausschuss hat im Zusammenhang mit der Arglist zwar auch auf Umstände zurückgegriffen, die in der Anklage nicht erwähnt sind. So sah (recte: hat) er Arglist nur insoweit als gegeben angenommen, als die Geschädigten die Kosten ihrer Beratungsgespräche nicht überprüfen konnten, da diese auf den Telefonrechnungen der Geschädigten anfangs nicht detailliert ausgewiesen waren. Dies erscheint unter dem Gesichtspunkt des Anklageprinzips indessen unproblematisch, weil mit diesem Argument die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beschwerdeführerin einschränkt wird (E. 3.3; Hervorhebungen duch mich).

Bevor die strafrechtliche Verantwortlichkeit eingeschränkt wird, muss sie doch zuerst einmal begründet werden. Hier wurde sie (auch?) damit begründet, dass die Geschädigten die Kosten nicht überprüfen konnten. Die schwierigen Lebenssituationen der Geschädigten – und darauf bezog sich offenbar die Anklageschrift – vermögen jedenfalls die Arglist allein sicher nicht zu begründen.

Das ist so ein Entscheid, bei dem ich den Eindruck habe, das Bundesgericht habe mit der Abweisung der Beschwerde ein materiell absolut richtiges Urteil schützen wollen. Hätte es die Anklageschrift in einem Anklagezulassungsverfahren beurteilen müssen, wäre es möglicherweise zu einem anderen Urteil gelangt (vgl. die in BGE 120 IV 348 definierten Anforderungen).