Anklageprinzip im Kanton Bern?
Im Kanton Bern galt der Anklagegrundsatz vor Einführung der Schweizerischen Strafprozessordnung jedenfalls in der Praxis sowie einigen bernischen Lehrbüchern nur beschränkt, obwohl BV und EMRK selbst nach einem Teil der bernischen Lehre auch in Bern anwendbar waren. Die angestrebte Rechtsvereinheitlichung durch die Schweizerische Strafprozessordnung änderte zunächst wenig an solchen kantonalen Sonderzügen. Noch heute ist die geistige Abwehrhaltung gegen missliebige Neuerungen so gross, dass manche Strafbehörden ihre ganze schöpferische Energie darauf konzentrieren, ihre bisherige Praxis auch unter neuem Recht fortführen zu können.
Ab und zu setzt aber das Bundesgericht ein Zeichen, so in einem gestern online gestellten Entscheid (BGer 6B_959/2013 vom 28.08.2014):
Im vorliegenden Fall gibt die Anklage abgesehen vom Deliktszeitraum (1. September 2006 bis 7. Juli 2009), dem Tatort (Brienz, Pratteln und anderswo), der angeblichen Menge produzierter und vertriebener Hanfblüten (mindestens 330 kg) und dem damit erzielten Umsatz (mindestens Fr. 1’650’000.–) im Wesentlichen die gesetzlichen Bestimmungen (Art. 19 Ziff. 1 und Ziff. 2 lit. c aBetmG) wieder. Es finden sich in der Anklageschrift keine näheren Angaben zum Lagern und zum Vertrieb der Hanfpflanzen/-blüten. Es wird keine einzige konkrete Tathandlung umschrieben, insbesondere weder ein Verkaufsvorgang – die Abnehmer sind unbekannt – noch etwa wie, in welcher Form und wofür der Erlös verwendet wurde. Insofern ist die Anklage zu unbestimmt und kann nicht Grundlage für eine Verurteilung sein (E. 3.4.2).
Speziell zum Tatort “anderswo” erklärt das Bundesgericht:
Die Anklageschrift vom 20. April 2012 verletzt insoweit offensichtlich das Akkusationsprinzip, als die Tathandlungen (Anbau, Lagerung, Verkauf/Abgabe [Vertrieb] von Hanfblüten mit einem THC-Gehalt von mehr als 1 %) auch “anderswo” als in Brienz und Pratteln begangen worden sein sollen. “Anderswo” ist keine und noch weniger eine hinreichend genaue Ortsbezeichnung, wie dies Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO ausdrücklich verlangt (E. 3.4.1).
Besonders wertvoll ist der Zusammenhang, den das Bundesgericht zu “in dubio pro reo” und zu “nemo tenetur” herstellt:
Wird Hanf mit einem erhöhten Gehalt an THC (Delta-Tetrahydrocannabinol) angebaut, besteht aufgrund der Eignung zur Gewinnung von Betäubungsmitteln (Urteil 2C_147/2007 vom 23. Januar 2008 E. 6.2) die Vermutung der Verwendung für illegale Zwecke, bei über einen längeren Zeitraum produzierten grösseren Mengen auch der Gewerbsmässigkeit. Dabei fällt ein diesbezüglicher Verdacht zunächst auf diejenige Person, die beschuldigt wird, den Hanf angebaut zu haben. Das allein wäre indessen kein genügendes Fundament für eine Anklage wegen vorsätzlichen unbefugten Lagerns und Verkaufs von Betäubungsmitteln nach Art. 19 Ziff. 1 aBetmG. Die gegenteilige Auffassung liefe darauf hinaus, dass der Beschuldigte seine Unschuld zu beweisen hätte, und nicht die Anklagebehörde seine Schuld, was dem Grundsatz “in dubio pro reo” insbesondere als Beweislastregel (BGE 127 I 38 E. 2a; Urteil 6B_1/2013 vom 4. Juli 2013 E. 1.5) widerspräche; tangiert ist zudem sein Recht zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten (“nemo tenetur se ipsum accusare”; Urteil 6B_843/2011 vom 23. August 2012 E. 3.3.2). Das Vorstehende gilt umso mehr, wenn der Vorwurf der gewerbsmässigen Tatbegehung im Raume steht. Gewerbsmässigkeit im Sinne von Art. 19 Ziff. 2 lit. c aBetmG ist gegeben, wenn – unter anderem – sich aus dem Aufwand an Zeit und Mitteln, aus der Häufigkeit der Einzelakte innerhalb eines bestimmten Zeitraums sowie aus den angestrebten und erzielten Einkünften ergibt, dass die beschuldigte Person die deliktische Tätigkeit nach der Art eines Berufes ausübt (BGE 129 IV 188 E. 3.1.2 S. 190 f., 253 E. 2.1 S. 254; Urteil 6S.89/2005 vom 11. Mai 2006 E. 3.2). Unter dem Gesichtspunkt des Anklagegrundsatzes kommt es zwar nicht so sehr darauf an, welche einzelnen Handlungen der beschuldigten Person vorgeworfen werden, sondern dass die Umstände die Verbrechenseinheit erkennen lassen (Urteil 6B_432/2011 vom 26. Oktober 2011 E. 2.3 mit Hinweisen; vgl. auch Nathan Landshut, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2010, S. 1627 Rz. 19). Die Annahme von Gewerbsmässigkeit darf jedoch nicht dazu führen, dass der Grundsatz “in dubio pro reo” unterlaufen wird (E. 3.4.2).
Und was passiert jetzt? Ist das Verfahren jetzt einfach durch? Urteil aufgehoben und dann nichts mehr? Dem (wohl) unvollständigen Dispositiv nach könnte man das durchaus in Betracht ziehen.
Das Dispositiv ist in der Tat interpretationsbedürftig.
Ich gehe aber angesichts des Umstandes, dass das BGer nur bei genügend liquiden Verhältnissen reformatorisch entscheidet, davon aus, dass der Beschwerdeführer lediglich (aber immerhin) mit seinem Eventualantrag obsiegt hat, also kein Freispruch, sondern Rückweisung an die Vorinstanz erfolgt ist.
Weiter geht’s dann wohl nach Art. 389 Absatz 2 lit. b StPO oder zumindest nach dem in dieser Bestimmung verkörperten Gedanken, aber sicher bin ich mir auch nicht. Was sagen die Fachleute?