Anklageprinzip ohne Prinzip

Die Erwägungen des Bundesgerichts zum Anklageprinzip werden immer unfassbarer und unberechenbarer, was ich anhand eines heute ins Netz gestellten Entscheids darzulegen versuche (BGer 6B:_694/2020 vom 17.06.2021). Ausgangspunkt ist BGE 120 IV 348, in welchem das Bundesgericht die erforderliche Zuordnung zwischen Handlungen / Unterlassungen und Tatbestandsmerkmalen wie folgt umschrieben hat:

Aus der Anklageschrift muss daher erhellen, welches historische Ereignis, welcher Lebensvorgang, welche Handlung oder Unterlassung des Angeklagten Gegenstand der Beurteilung bilden soll, und welches Delikt, welcher strafrechtliche Tatbestand in dieser Handlung zu finden sei. Einerseits muss die Tat individualisiert, d.h. ihre tatsächlichen Verumständungen oder Tatbestandsmerkmale – Zeit, Ort, Art der Begehung und Form der Mitwirkung, angestrebter oder verwirklichter Erfolg (einschliesslich Kausalzusammenhang) – angegeben sein; andererseits sind die einzelnen rechtlichen Elemente des Delikts hervorzuheben. Die Darstellung des tatsächlichen Vorgangs ist auszurichten auf den gesetzlichen Tatbestand, der nach Auffassung der Anklage als erfüllt zu betrachten ist, d.h. es ist anzugeben, welche einzelnen Vorgänge und Sachverhalte den einzelnen Merkmalen des Straftatbestandes entsprechen (ARTHUR HAEFLIGER, Kommentar zur Militärstrafgerichtsordnung, Bern 1959, Art. 124 N. 3) [E. 3.c, Hervorhebungen durch mich].

Daraus macht das Bundesgericht im aktuellen Entscheid 6B:_694/2020 folgendes:

Es ist nicht Aufgabe der Anklage, die Subsumtion der Tatvorwürfe unter einschlägige Straftatbestände vorwegzunehmen. Es reicht, wenn die Anklageschrift die Tatsachen vollständig darstellt, die den massgeblichen Elementen der nach Auffassung der Staatsanwaltschaft erfüllten Straftatbestände entsprechen (vgl. Art. 325 Abs. 1 lit. f und g StPO; NIGGLI/HEIMGARTNER, in: Basler Kommentar StPO Bd. I, 2. Aufl. 2014, N 42 zu Art. 9 StPO) [E. 1.2].

Niggli/Heimgartner, auf die sich das Bundesgericht beruft, sagen an der zitierten Stelle folgendes:

Ungenügend etwa ist, wenn sich aus der Anklageschrift nicht ergibt, durch welchen Handlungen der Täter den vorgeworfenen Tatbestand erfüllt haben soll […].

Niggli/Heimgartner berufen sich auf einen weiteren Entscheid des Bundesgerichts (BGer 6B_492/2012 E. 3.5,), der eine Verletzung des Anklageprinzips erkannt hat:

Aus der Anklageschrift ist nicht ersichtlich, durch welche der in Art. 165 Ziff. 1 StGB genannten Bankrotthandlungen der Beschwerdeführer die Überschuldung der B. AG herbeigeführt oder verschlimmert oder deren Zahlungsunfähigkeit herbeiführt haben soll (E. 3.5).

Es wäre an der Zeit, dass das Bundesgericht wieder klare Verhältnisse schafft bzw, die in BGE 120 IV 348 geschaffenen Verhältnisse bestätigt oder – von mir aus – auch wieder verwirft. Der Anklagegrundsatz ist eine der wenigen zentralen Maximen der StPO, die ja immerhin dem modernen Anklageprozess verpflichtet sein will. Die gegenwärtig herrschende Beliebigkeit dient der Kohärenz in der Rechtsprechung wirklich nicht.