Anklageprinzip verletzt

Das Bundesgericht kassiert die Verurteilung im Sinne von Art. 189 StGB eines Beschwerdeführers wegen Verletzung des Anklageprinzips (BGer 6B_8/2008 vom 28.08.2008). Er drang mit dem Argument durch, die Tatbestandsvariante des “Unter-psychischen-Druck-Setzens” sei in der Anklageschrift ungenügend umschrieben. Die entsprechende Stelle der Anklageschrift wird im Entscheid wie folgt zitiert:

Der Angeklagte vollzog all diese (…) genannten Handlungen, die einzig zu seiner eigenen sexuellen Befriedigung dienten, an der (…) Geschädigten (…), obschon er wusste, dass er gegen ihren Willen handelte und sie diese Handlungen nur wegen ihrer – wie er wusste – kognitiven Unterlegenheit und weil sie infolge ihrer Abhängigkeit, sowohl in emotionaler als auch in sozialer Hinsicht dem Angeklagten ausgeliefert war, über sich ergehen liess.

Die Vorinstanz, welche das Anklageprinzip als gewahrt qualifizierte, stellte folgendes fest:

Aus der Anklageschrift ergebe sich, worin die Untersuchungsbehörde die Erfüllung der Tatbestandsvariante des “Unter-psychischen-Druck-Setzens” erblicke. So werde das “Stiefverhältnis” zwischen dem Beschwerdeführer und den drei Geschädigten erwähnt. Weiter führe die Anklageschrift aus, dass die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Handlungen am Familien- bzw. Feriendomizil begangen worden seien. Ebenfalls sei das Alter der Geschädigten ersichtlich. Aus den genannten Umständen werde geschlossen, dass die Geschädigten die Handlungen nur wegen ihrer kognitiven Unterlegenheit und infolge ihrer sozialen und emotionalen Abhängigkeit über sich ergehen liessen (…).

Dem hält das Bundesgericht entgegen:

Der Beschwerdeführer bringt zu Recht vor, dass die Anklageschrift nur vorbestehende Verhältnisse aufführt, welche für sich allein nicht zu einer Nötigungssituation im Sinne von Art. 189 Abs. 1 StGB führen. Die Vorinstanz erwähnt im Rahmen der rechtlichen Würdigung, der Beschwerdeführer habe den Geschädigten ein Schweigegebot auferlegt und ihnen nach Vornahme der sexuellen Handlungen oftmals etwas geschenkt. Die geschilderten Umstände würden weit über die blosse Ausnützung eines vorbestehenden privaten Machtverhältnisses zwischen dem Beschwerdeführer und den Geschädigten hinausgehen, weshalb sie als “strukturelle Gewalt” zu qualifizieren seien (vgl. angefochtenes Urteil S. 19 ff.). Ob diese knappe Begründung für die Bejahung eines psychischen Druckes im Sinne von Art. 189 Abs. 1 StGB ausreichend wäre, ist fraglich. Aus der Anklageschrift ist jedenfalls nicht ersichtlich, inwiefern der Beschwerdeführer im Einzelnen eine tatsituative Zwangssituation geschaffen hat. Demzufolge konnte er auch seine Verteidigungsrechte nicht angemessen ausüben. Die Anklageschrift erweist sich sowohl angesichts ihrer Umgrenzungs- als auch Informationsfunktion als ungenügend, weshalb die Beschwerde in diesem Punkt begründet ist.

Mich überzeugen diese Argumente. Insbesondere freut es mich, dass die strafrechtliche Abteilung mit diesem Entscheid wieder einmal dokumentiert, dass sie beim Anklagegrundsatz einen strengen Massstab anzuwenden bereit ist, was m.E. nicht immer zutrifft (vgl. etwa einen früheren Beitrag). Den Massstab definiert das Bundesgericht mit folgender Umschreibung:

Seine verfassungsrechtliche Grundlage findet der Anklagegrundsatz in Art. 32 Abs. 2 BV. Danach hat jede Person Anspruch darauf, möglichst rasch und umfassend über die gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden. Sie muss die Möglichkeit haben, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte geltend zu machen. Ferner räumt auch Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK einen Anspruch darauf ein, in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in Kenntnis gesetzt zu werden. Dadurch soll der Angeklagte vor Überraschung und Überrumpelung geschützt und ihm eine effektive Verteidigung ermöglicht werden (BGE 126 I 19 E. 2a S. 21, mit Hinweisen). Konkretisiert wird der Anklagegrundsatz zur Hauptsache durch die formellen Anforderungen, welche das kantonale Verfahrensrecht an die Anklageschrift stellt.