“Antizipierte Beweiswürdigung” und Treuwidrigkeit

In Dreierbesetzung weist das Bundesgericht eine Beweiswürdigungsbeschwerde gegen ein Urteil ab, das vor über zwei Jahre ergangen war (BGer 6B_1107/2020 vom 20.07.2022). Wenn ich es richtig sehe, hat es dabei aber nicht einmal alle Rügen behandelt. Doch darum geht es mir hier gar nicht. Ich erwähne den Entscheid, um einmal mehr auf die ständige (und m.E. immer noch unhaltbare) Rechtsprechung zur antizipierten Beweiswürdigung hinzuweisen:

Gemäss ständiger Rechtsprechung können die Strafbehörden ohne Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes auf die Abnahme weiterer Beweise verzichten, wenn sie in Würdigung der bereits abgenommenen Beweise zur Überzeugung gelangen, der rechtlich erhebliche Sachverhalt sei genügend abgeklärt, und sie überdies in antizipierter Würdigung zum Schluss kommen, ein an sich taugliches Beweismittel vermöge ihre aufgrund der bereits abgenommenen Beweismittel gewonnene Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer strittigen Tatsache nicht zu erschüttern (E. 5.2.2, Hervorhebungen durch mich).

Damit sind Beweisanträge praktisch gar nie durchsetzbar, wenn sie nicht zugleich auf die Erfüllung eines anderen Anspruchs abzielen, zum Beispiel des Konfrontationsanspruchs.

Das Bundesgericht lässt es sich in diesem Entscheid übrigens auch nicht nehmen, dem Beschwerdeführer Treuwidrigkeit und Rechtsmissbrauch vorzuwerfen, dies ohne die dazu jüngst erschienene Dissertation, seines Zeichens Gerichtsschreiber beim Schweizerischen Bundesgericht), überhaupt zu erwähnen (vgl. dazu meinen früheren Beitrag):

Dasselbe gilt, wenn der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 318 Abs. 2 StPO durch die Staatsanwaltschaft rügt, da diese seinen Antrag auf Einholung eines Gutachtens nicht ausdrücklich abgelehnt, dieses aber auch nicht eingeholt habe. Der Beschwerdeführer zeigt nicht auf, und es ist auch nicht ersichtlich, dass er diesen angeblichen prozessualen Mangel bereits im vorinstanzlichen Verfahren thematisiert hätte, obgleich ihm dies ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Mit der erstmaligen Rüge vor Bundesgericht handelt er treuwidrig und rechtsmissbräuchlich (vgl. BGE 143 V 66 E. 4.3; 135 III 334 E. 2.2; Urteile 6B_828/2020 vom 1. September 2021 E. 1.1; 6B_23/2021 vom 20. Juli 2021 E. 2.3; je mit Hinweisen) [E. 5.3].