Auch ein Vertrauensarzt ist ein Arzt
In einem zur Publikation in der Amtlichen Sammlung hat das Bundesgericht die Verurteilung eines Arztes bestätigt, der als Vertrauensarzt dem Arbeitgeber Informationen über den Gesundheitszustand des Arbeitnehmers offenbart hat (BGE 6B_1199/2016 vom 04.05.2017).
Zu prüfen war zunächst, ob auch der Vertrauensarzt dem Berufsgeheimnis nach Art. 321 StGB untersteht, was zu bejahen war:
Auch der vom Arbeitgeber eingesetzte Vertrauensarzt muss über umfassende Informationen über den Gesundheitszustand des Exploranden verfügen, um der ihm übertragenen Aufgabe sachgerecht nachkommen zu können. Der Arbeitnehmer, der zu einer vertrauensärtzlichen Untersuchung aufgeboten wird, darf darauf vertrauen, dass diese Informationen nicht ohne Weiteres an den Arbeitgeber weitergeleitet werden. Mithin ist – entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers – auch der von einem Arbeitgeber eingesetzte Vertrauensarzt dem Berufsgeheimnis nach Art. 321 StGB unterstellt. Ob und in welchem Umfang der Arzt dem Arbeitgeber berichten darf, hängt davon ab, ob er seitens des Arbeitnehmers vom Geheimnis entbunden worden ist (E. 1.2).
Die Einwilligung des Arbeitnehmers deckte auch nach Auffassung des Bundesgerichts nicht alles ab, was der Vertrauensarzt in Erfahrung gebracht hat:
C. ermächtigte den Beschwerdeführer schriftlich, “zuhanden von Kostenträger (Krankenkasse, Unfallversicherung, IV, Taggeldversicherung, Behörden etc.) sowie Drittpersonen (Arbeitgeber etc.) ärztliche Zeugnisse zu verfassen” (act. 1/8/2). Die Entbindung erfolgte im Rahmen einer vertrauensärztlichen Untersuchung, die von der Arbeitgeberin verlangt worden war. Die Annahme der Vorinstanz, dass diese Erklärung keine über den Rahmen von Art. 328b OR hinausgehende Information der Arbeitgeberin erlaubte, ist nicht zu beanstanden. Auch die blosse Ausstellung eines Zeugnisses bedarf einer eingehenden Untersuchung und der Mitwirkung des Exploranden. Die Einwände des Beschwerdeführers, die Untersuchung sei umfassend gewesen und C. habe gegen die Weitergabe von Informationen an die Arbeitgeberin nicht opponiert, sind somit belanglos. Ebenso unbeachtet müssen die Abmachungen zwischen dem Beschwerdeführer und der Arbeitgeberin bleiben, zumal Letztere nicht über das Geheimnis ihres Arbeitnehmers verfügen darf. Ob der Beschwerdeführer auch im Rahmen seiner früheren Gutachtertätigkeit das Berufsgeheimnis verletzte, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens und würde ohnehin nur die Frage des Vorsatzes betreffen. Objektiv ist der Tatbestand der Verletzung des Berufsgeheimnisses erfüllt (E. 2.3).
Schliesslich äusserte sich das Bundesgericht noch zum subjektiven Tatbestand. Es beschränkte sich aber darauf, die Erwägungen der Vorinstanz zu bestätigen:
Zur subjektiven Tatbestandsmässigkeit erwägt die Vorinstanz im Wesentlichen, dass der Praxisleitfaden SAMW/FMH dem Beschwerdeführer bekannt gewesen sei. Der zur Diskussion stehende Bericht enthalte derart viele sensible Informationen, deren Relevanz für die Frage der Arbeitsfähigkeit nicht ersichtlich sei, dass dem Beschwerdeführer augenfällig sein musste, dass er nicht sämtliche Informationen an die Arbeitgeberin weiterleiten durfte. Entgegen seinen Vorbringen sei davon auszugehen, dass er als erfahrener Arzt auch gewusst habe, dass die mit der Auftraggeberin vereinbarte Entlohnung kein Gradmesser dafür sein konnte, in welchem Umfang er vom Berufsgeheimnis entbunden wurde, zumal selbstredend der Arbeitnehmer und nicht dessen Arbeitgeberin Herr über die anlässlich der Untersuchung anvertrauten oder wahrgenommenen Geheimnisse war. Auch habe dem Beschwerdeführer bekannt sein müssen, dass, wie im Praxisleitfaden SAMW/FMH ausdrücklich festgehalten, für die Einwilligung des Betroffenen zur Auskunftserteilung an Dritte die Regeln des “informed consent” gelten. Der Beschwerdeführer habe C. nicht vorgängig darüber aufgeklärt, welche Informationen er der Arbeitgeberin mitteilen würde. Unter diesen Umständen habe ihm bewusst sein müssen, dass die schriftliche Ermächtigungserklärung von C. vom 9. September 2013 nicht als umfassender und vorbehaltsloser Generalverzicht auf das Arztgeheimnis verstanden werden konnte, sondern lediglich als Einwilligung in die Zustellung eines vertrauensärztlichen Zeugnisses an die Arbeitgeberin im üblichen, gesetzlich zulässigen Rahmen. Die Vorinstanz fügt hinzu, dass selbst der Vertrauensarzt eines öffentlichrechtlichen Krankenversicherers nach Art. 57 KVG an das Arztgeheimnis gebunden sei und dem Versicherer nur jene Informationen weiterleiten dürfe, die zur Beurteilung eines Leistungsanspruches erforderlich seien. Der Vertrauensarzt habe nicht nur bei privaten Arbeitgebern, sondern auch gegenüber einem Versicherer sich auf die Weitergabe von für die jeweilige Fragestellung erforderlichen Daten zu beschränken. Im Unterschied zum Arbeitgeber könne für einen Versicherer allerdings die Kenntnis der Diagnose und weiterer medizinischer Daten erforderlich sein. Die entsprechende Sach- und Rechtslage sei dem Beschwerdeführer bekannt gewesen. Die Vorinstanz folgt dem Beschwerdeführer, wenn er vorbringt, er habe den Bericht streng nach den Richtlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Versicherungspsychiatrie erstellt. Sie hält aber fest, dass es sich vorliegend nicht um ein psychiatrisches Gutachten im Rahmen eines versicherungsrechtlichen Verfahrens zuhanden einer Verwaltungs- oder Gerichtsbehörde handelte. Dies sei auch ohne besondere Sachkenntnis allein aufgrund der Umstände der Auftragserteilung offensichtlich gewesen. Im Ergebnis könne nicht lediglich von einem sorgfaltswidrigen Nichtwissen des Beschwerdeführers ausgegangen werden. Namentlich wegen der Weitergabe der subjektiven Äusserungen von C. zum Konflikt am Arbeitsplatz und den zahlreichen, mit der Frage der Arbeitsfähigkeit nicht in einem direkten Zusammenhang stehenden Detailangaben zu dessen persönlichen, beruflichen und finanziellen Umständen musste sich dem Beschwerdeführer eine Verletzung des Berufsgeheimnisses als derart wahrscheinlich aufdrängen, dass eventualvorsätzliches Handeln angenommen werden müsse. Gleich zu werten sei der Umstand, dass er der Arbeitgeberin eine Diagnose offenbarte, von der er klar wusste, dass sie für die Frage der Arbeitsfähigkeit überhaupt nicht relevant war. Der Beschwerdeführer habe sich über derart elementare, jedermann einleuchtende Vorschriften hinweggesetzt, dass sich der Schluss, dass es ihm gleichgültig war, sensible Daten ohne wirksame Einwilligung weiterzuleiten, aufdränge (Urteil, S. 17 ff.) [E. 3.1].
Überzeugend, oder?
Das scheint mir so sehr der herrschenden Lehre und Rechtsprechung zu entsprechen, dass ich mich frage, wieso der Entscheid überhaupt publiziert wird.
Ich frage mich allerdings gerade, wie das im Strafverfahren läuft: Wird da dem Beschuldigten, der zum Gutachter geschickt wird, zunächst ein Formular betreffend (vollständiger) Entbindung vom Arztgeheimnis in die Hand gedrückt? Oder ist das Arztgeheimnis da (spezial)gesetzlich aufgehoben?