Aussagepsychologische Grundregeln
Neulich habe ich einem schriftlich begründeten Urteil entnehmen müssen, dass ich meine Mandanten qualifiziert falsch berate, wenn ich ihnen empfehle, zu schweigen (was ich praktisch immer tue). Ich ging naiverweise davon aus, dass die Strafbehörden nichts von Aussagepsychologie verstehen. Nun lese ich aber eben folgendes:
Generell würde man von einer unschuldigen beschuldigten Person doch eher erwarten, dass sie freimütig Auskunft gibt und versucht, alles zu erklären und sich mit Ihren eigenen Aussagen zu entlasten. Ein unschuldiger Beschuldigter antwortet detailreich, spontan und ohne Ausflüchte. Er will die Wahrheit ans Licht bringen, ist gesprächig, kooperativ im Gespräch und bleibt beim Thema. Er verwendet treffende und starke Ausdrücke bezüglich des Inhalts der Vorwürfe und beteuert die Unschuld spezifisch zum jetzigen Fall, ohne dazu aufgefordert zu werden.
Ein schuldiger Beschuldigter erzählt demgegenüber nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich; er neigt zu Auslassungen. Er will die Wahrheit verheimlichen, ist zurückhaltend, unkooperativ im Gespräch und weicht auf irrelevante Themen aus. Er verwendet schwache und ausweichende Ausdrücke bezüglich des Inhalts der Vorwürfe und spricht nicht spontan über seine Unschuld.
Es stimmt eben doch, dass nur schweigt, wer etwas zu verbergen hat.
….ja, so ist es (leider oder eben auch nicht) – es ist ja offensichtlich, dass ein “Unschuldiger” nicht den geringsten Grund hat, seine Aussage zu verweigern….das Recht zu schweigen ist zwar ein sehr wichtiges Recht. “Praktisch” gesehen, kommt es jedoch wohl äusserst selten dem Beschuldigten zugute….
Gerade ein Unschuldiger hat allen Grund, seine Aussage zu verweigern. Er ist im gesamten Verfahren mit Profis konfrontiert, die viele Jahre Erfahrung bei der Vernehmung haben und z.B. die umstrittene Reid-Methode anwenden oder “Good Cop Bad Cop” spielen. Für den grössten Teil der Bevölkerung ist es völlig naiv, zu glauben, man könne diesen Menschen rhetorisch und argumentativ auf Augenhöhe begegnen. Jedes noch so kleine Detail hilft, die “Arbeitshypothese” von Polizei und Staatsanwaltschaft passend zu machen. Das wissen natürlich auch sämtliche Polizisten, Staatsanwälte, Gerichtsschreiber und Richter und werden dir das im privaten Umfeld auch bestätigen. In Urteilen etwas anderes zu schreiben, dient lediglich der Erosion von Verfahrensrechten.
Da bin ich nur noch eins: sprachlos. Interessant wäre noch zu erfahren, welches Gericht dergestalt begründet…
Dieser Baustein hat sich Anscheinend beim Obergericht Solothurn eingebürgert. https://entscheidsuche.ch/docs/SO_Omni/SO_OG_006_STBER-2023-73_2024-07-03.html
Muss man denn als Beschuldigter die Schuldvermutung umstossen?! Ich habe das anders gelernt!! (Doch leider wird das noch von vielen Gerichten und Staatsanwaltschaften faktisch so gehandhabt…)
Aber es ist dann wohl so, wenn er etwas gesagt hätte, was ihn entlastet, dann hätte man ihm unterstellt, dass er lüge! Es ist wie in einer toxischen Beziehung: egal was sie tun, es ist falsch! 😛
Ah, die systematische Erosion von Verfahrensrechten. Geblendet vom Nimbus der eigenen Unfehlbarkeit übersieht das Bundesgericht, wie ein Beschuldigter «freimütig versuchen soll, alles zu erklären und detailreich, spontan und ohne Ausflüchte» zu einem Sachverhalt zu antworten, der z.B. von der Polizei frei erfunden wurde. Umgekehrt gelten die Regeln der Aussagepsychologie gegenüber Polizeizeugen nicht. Der Beamte hat innerhalb von ein paar Minuten dreimal den Tatvorwurf geändert und intensiviert? Er konnte die anderen Vorwürfe nur nicht beweisen. Der Polizist hat eine aktenwidrige Zeugenaussage gemacht? Egal, wir brechen die Konfrontation hier ab.
Eine weitere Ausprägung dieses Vorgehens ist es, den Vorinstanzen einen Persilschein auszustellen. In einem ziemlich neuen Berufungsentscheid wird über mehrere Seiten (!) darüber referiert, warum die Urkundenfälschung durch die Polizei «ganz offensichtlich ein Versehen» sein muss. Auf die konkreten und sehr viel ernsthafteren Vorwürfe des Betroffenen (Amtsmissbrauch, Urkundenfälschung im Amt während der Hauptverhandlung, vielfache Verletzung rechtlichen Gehörs, Missachtung von Beweisverwertungsverboten usw.), wird hingegen mit KEINEM Wort eingegangen. Beweisanträge werden nicht behandelt.
Einerseits ist das eine Art internes Nachrichtensystem, mit dem die Vorinstanzen reingewaschen werden und noch ein paar Hinweise erhalten, wie nächstes Mal vorzugehen ist. Andererseits wird damit beim Beschuldigten «nachgetreten» und sinngemäss die Botschaft vermittelt, dass er selbst schuld ist, dass er die vorgegebene Version der Wahrheit nicht akzeptiert oder sich nicht selbst belastet hat. Untermauert wird das häufig von Vorwürfen, der Beschuldigte habe einen entlastenden Umstand zu spät vorgebracht oder «während des ganzen Verfahrens geschwiegen». Eine solche Erosion des nemo-tenetur-Prinzips sollte in einem Rechtsstaat strafbar sein.
Absurd! Das BGer hat keine Ahnung! Wer schuldig ist, neigt dazu sich herausreden zu wollen. Wer hingegen unschuldig ist, macht keine Aussagen, weil 1. die Stawa den Täterschaftsnachweis nicht erbringen kann, also muss er sich nicht herausreden (er ist ja unschuldig), und weil es 2. den Staat das Privatleben eines Unschuldigen einen Feuchten angeht. Er hat das Soziale Zusammenleben ja nicht gestört. Mit welchem Recht will der Staat seine Schnüffelei dann legitimieren?
@Andi: So ist es. Aber das war nicht das Bundesgericht, sondern ein erstinstanzliches Gericht.
Da bin ich ja noch einigermassen beruhigt.
Genau so ist die Praxis!
Als unschuldig Verurteilter folgte ich dem Rat der Verteidiger und habe geschwiegen. Was ist bloß los in dieser Juristerei in diesem Land?
Die Verteidiger wollen die Argumentationshoheit für sich reklamieren. Die Unschuldsvermutung gilt insbesondere nicht bei 4-Augen-Prozessen. Dort gelten Vorurteile und die Macht der Staatsanwälte mit ihren kreativen Narrativen. Die Richter folgen diesen Konstrukten und dem landesüblichen gesellschaftlichen Trend. Sie “glauben” der Schweigende habe etwas zu verbergen. Letzterer ist ebenso ein Gläubiger, weil er nicht anders kann, als der Fachperson zu glauben. Er glaubte seinem Verteidiger mit hohem Risiko. Später sagt dieser, er hätte nach bestem Wissen und Gewissen beraten.
Nun gelte ich als ein (Schwer-)Verbrecher und habe offensichtlich als Unschuldiger die Konsequenzen zu tragen.
Dieses System nimmt Kollateralschäden in Kauf. Wenn selbst ein Bundesgericht derart argumentiert und sich nicht auf Fakten stützt, ist das mehr als bedenklich.
@Peter Hoffstetter: Vorsicht, das war zum Glück nicht das Bundesgericht.
Danke für die Korrektur: Nun denn, das BG wird kaum eine Korrektur vornehmen, wenn das OG (oder wer auch immer) derart argumentiert, wie eingangs beschrieben. Ich habe viel gelernt, aber kann das Gelernte nicht mehr nutzen. Die Machtverhältnisse sind leider gegeben. Ich habe so etliche Zweifel an der Integrität mancher Richter.
Zitat Lex Audas: „Einerseits ist das eine Art internes Nachrichtensystem, mit dem die Vorinstanzen reingewaschen werden und noch ein paar Hinweise erhalten, wie nächstes Mal vorzugehen ist.“
Wer als Entscheidinstanz Aussagen auf diese Weise würdigt, hat offenbar kaum Fachliteratur/Fachmeinungen über Aussagepsychologie gelesen, verstanden oder vereinfacht/ignoriert sie bewusst. Schon kurzen Aufsätzen in der Fachliteratur sind differenzierte Beurteilungs-/Prüfungsschemata zu entnehmen.
Fehlen Quellenangaben auch in der Urteilsbegründung?
Ausserdem scheint hier pauschal die Person statt die Glaubhaftigkeit einer Aussage beurteilt zu werden, das aber ist sowieso unzulässig, methodisch falsch.
Falls diese Beweis”würdigung” (verdient diese Bezeichnung kaum) massgeblich über Schuld oder Unschuld entscheidet, verstösst sie in erschreckender Weise gegen einige Verfahrensgarantien.
@Henry: Das Urteil hat sich auf ein angebliches Referat einer Aussagepsychologin im Jahr 2015 bezogen. Nachprüfbar war das aber nicht une ich bin sicher, dass es auch nicht stimmt.
… Aber es ist eben doch stillschweigende Praxis!
Zu Ihrer ironischen Schlussbemerkung: Leider glauben manche Beschuldigte/Auskunftspersonen, sie machten sich verdächtig, es mache einen schlechten Eindruck, wenn sie ihr Schweigerecht ausüben. Deshalb sagen sie aus.
Sie kapieren nicht, dass sie erst damit der Behörde die Möglichkeit eröffnen, ihre Aussagen und ihr Aussageverhalten zu beurteilen. Und wer zum ersten Mal in einem Strafverfahren befragt wird, ist mangels Erfahrung oft naiv-gutgläubig, die Behörde verhalte sich unparteiisch, fair, gesetzeskonform.
Das ist skandalös und selbst disqualifizierend!
Ich könnte wetten, die Verfasser dieses Urteils waren noch nie auf der anderen Seite, d.h. an der Seite eines Beschuldigten, etwa jenem, der morgens um 6 Uhr von 6 bewaffneten Polizisten aus dem Bett geholt wird, dann wird die Wohnung durchsucht, wenn möglich in Anwesenheit der Kinder, dann geht’s ein paar Stündchen in die Abstandszelle ohne Fenster und Luft und dann zur ersten Befragung als Schuldiger, von vornherein.
Erwartet man rationales Verhalten, rationale Aussagen? Aussagepsychologie vom Schreibtisch?
Auch unschuldige Personen, die vorgeladen sind, rufen den Anwalt an, weil man schlicht Angst hat vor Strafbehörden und nicht weiss, wie man sich benehmen soll.
Und übrigens können kaltblütige schuldige Personen, also die wirklich schuldigen, detaillierteste Stories über ihre Unschuld erzählen, während Unschuldige gehemmt sind, weil sie sich den Umgang mit Behörden nicht gewohnt sind. Der Rat, zunächst einmal zu schweigen, bis man sich gefasst hat, ist sicher richtig.
Klasse! Danke fürs Teilen.
Die Afghanische Regierung möchte ihren tiefen Respekt ausdrücken.
Diese Denkweise hatte ich bisher nur von Polizisten gehört. Sinngemäss: “Ha! Er will sein Handy nicht zeigen, also hat er etwas zu verbergen.“
Leider ist das oft der Fall: Kriminelle – und auch einige Gerichte – möchten keine potenziellen Aufnahmegeräte in ihren Räumlichkeiten sehen. Weil sie eben was zu verbergen haben.
Schade, das das Gericht so wenig Humor besitzt. Zuerst von dem Schweigerecht Gebrauch machen, dann die Aussage(n) anpassen und dem Richter später ggf. und ohne rot zu werden ins Gesicht lügen ist doch der Zuckerguss auf jeder Torte.
Das ist doch genau die Vorgehensweise der Gegenseite. Die Polizei verfasst ihren Bericht erst nach den Zeugeneinvernahmen. Die Staatsanwaltschaft bleibt untätig oder ermittelt nichts entlastendes. In der Hauptverhandlung werden die Zeugen nach dem Grad ihres Belastungseifers geladen und können nicht oder nur eingeschränkt konfrontiert werden. Zu einem solchen Schmierentheater sollte man nichts beitragen ausser eisernem Schweigen.
Koni, ich verstehe Deine Schlussfolgerung – und damit den grössten Teil der nachfolgenden Kommentare – überhaupt nicht:
die zitierte Erwägung behandelt die aussagepsychologische Analyse von AUSSAGENDEN Unschuldigen und Schuldigen. Die Erwägung ist seit langem bekannt und wird auch häufig angewendet..
Wie eine AussageVERWEIGERUNG zu bewerten ist, hat damit nichts zu tun.
@HpM: Der Kontext war, dass meine Mandantin im ganzen Verfahren nicht ausgesagt hat. Es gab somit keine Aussagen zu würdigen. Das Zitat ist aber auch dann nicht belastbar, wenn es um die Bewertung von Aussagen geht. Ich halte das für Küchenpsychologie.
Noch viel problematischer ist aber der Zirkelschluss, der sich offenbart, wenn man zwischen Unschuldigen und Schuldigen zu unterscheiden versucht.
Dann wurde die Erwägung offenbar gar nicht angewendet: also viel Lärm um nichts und Deine Schlussfolgerung umso weniger verständlich.
Die Bezeichnung „Küchenpsychologie“ wird die damalige Referentin, eine schweizweit anerkannte Fachkraft, zweifellos freuen.
@Anonymous: Doch, sie wurde eben angewendet auf meine schweigende Mandantin (sonst hätte es das Zitat im Urteil ja nicht gebraucht). Die schweizweit anerkannte Fachkraft kenne ich übrigens gut genug um zu glauben, dass sie das so nicht gesagt hat.
@HpM
Die Erwägung behandelt sinngemäss auch schweigende Beschuldigte: “erzählt nur so viel wie nötig [nichts] und so wenig wie möglich [nichts]; er neigt zu Auslassungen [alles]. […] ist zurückhaltend [er schweigt], unkooperativ im Gespräch [er spricht nicht] […]”.
Da bin ich aber gespannt auf den entsprechenden konkreten Auszug aus dem Urteil (und nicht nur den Blocksatz in den allgemeinen Erwägungen). Wenn das stimmen würde., wäre ich geneigt, Dir recht zu geben.
@HpM: Liefere ich gerne nach. Wenn mich nicht alles täuscht, hast Du das Urteil übrigens kassiert.
@HpM. Hier der ganze Teil der Urteilsbegründung, der sich mit dem Aussageverhalten befasst (anonymisiert habe ich nur den Namen der nicht nachprüfbar zitierten Aussagepsychologin):
Danke Koni. Das geht für mich gar nicht!
Die aussagepsychlogische Lehrmeinung halte ich aber für überzeugend, sie wurde auch schon in unzähligen Urteilen – auch von mir – verwendet. Man kann und darf sie aber nicht auf eine „Nicht-Aussage“ anwenden (wie es die Bezeichnung „Aussage“-Analyse eigentlich schon deutlich genug zum Ausdruck bringt!
Schlecht geschrieben, aber das Folgende ist wohl jeden in der Juristerei bekannt:
“Das Schweigen der beschuldigten Person darf in Situationen, die nach einer Erklärung rufen, bei der Gewichtung belastender Elemente mitberücksichtigt werden, es sei denn, die beschuldigte Person berufe sich zu Recht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht (Urteile 6B_1202/2021 vom 11. Februar 2022 E. 1.8.2; 6B_299/2020 vom 13. November 2020 E. 2.3.3; je mit Hinweisen). Die fehlende Mitwirkung der beschuldigten Person im Strafverfahren darf demnach nur unter besonderen Umständen in die Beweiswürdigung miteinfliessen. Die zitierte Rechtsprechung führt nicht zu einer Beweislastumkehr, sondern lediglich dazu, dass auf die belastenden Beweise abgestellt werden darf (Urteile 6B_1205/2022 vom 22. März 2023 E. 2.4.1; 6B_1302/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.4.4, nicht publ. in: BGE 147 IV 176). ”
Ob man davon dann zu häufig Gebraucht macht, ist eine andere Frage.
Kollegiale Grüsse
Die Veranstaltung findet nächstes Jahr wieder statt:
https://irphsg.ch/weiterbildung/tagungen/aktuelle-veranstaltungen/seminar-zwischen-wahrheit-und-luege/
Und für die Interessierten, hier der Entscheid: https://entscheidsuche.ch/docs/SO_Omni/SO_OG_006_STBER-2021-87_2022-09-29.html
Im Verlauf der Jahre trifft man ab und zu auf Fälle mit erwiesenen falschen Anschuldigungen im Bereich der Sexualdelinquenz. Ich habe mir jeweils die Mühe gemacht, die Fälle etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, da sie mir für die allgemeine richterliche Tätigkeit als wichtig erscheinen.
Seitens der vermeintlichen Opfer ist mir aufgefallen, dass man tatsächlich sehr häufig Lügensignale, wie sie in der aussagepsychologien Literatur nachschauen kann, findet. Interessant ist auch, dass das vermeintliche Opfer im Verlauf d. Untersuchung ‘zu macht’ und kaum mehr etwas sagt. Auf seiten der vermeintlichen Täter findet man tatsächlich praktisch immer das Verhalten, welches das Gericht hier wiedergegeben hat. Im Übrigen: Kein einziger der zu Unrecht beschuldigten Männer hat in den Fällen, die ich gesehen habe, auch nur in einem Punkt die Aussage verweigert.
Ich werde weiterhin solche Dossiers unter diesem Aspekt prüfen, im Wissen darum, dass letztlich die Gesamtwürdigung des Einzelfalls entscheidend sein muss. Trotzdem wäre die systematische Auswertung von 20+ Fällen mit falschen Anschuldigungen mal ein lohnendes Projekt für eine kriminalistisch interessierte Person.
Das BGer hat sich z.B. in 6B_1018/2021 E. 1.3.1. zumindest sinngemäss auch schon dahingehend geäussert…: “[…] Unzulässig wäre es ferner auch, das Schweigen der beschuldigten Person als Indiz für ihre Schuld zu werten (BGE 138 IV 47 E. 2.6.1 mit Hinweisen). Demgegenüber ist es – wie das Bundesgericht unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen John Murray gegen Vereinigtes Königreich (Urteil vom 8. Februar 1996, Nr. 18731/91) festgestellt hat – nicht ausgeschlossen, das Aussageverhalten der beschuldigten Person in die freie Beweiswürdigung miteinzubeziehen, so insbesondere, wenn sie sich weigert, zu ihrer Entlastung erforderliche Angaben zu machen, bzw. es unterlässt, entlastende Behauptungen näher zu substanziieren, obschon eine Erklärung angesichts der belastenden Beweiselemente vernünftigerweise erwartet werden darf (so jüngst und längst unter der Geltung der eidgenössischen StPO Urteile 6B_1202/2021 vom 11. Februar 2022 E. 1.8.2; 6B_1302/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.4.4, nicht publ. in: BGE 147 IV 176; 6B_289/2020 vom 1. Dezember 2020 E. 7.8.1; je mit weiteren Hinweisen). Das Schweigen der beschuldigten Person darf in Situationen, die nach einer Erklärung rufen, bei der Gewichtung belastender Elemente mitberücksichtigt werden, es sei denn, die beschuldigte Person berufe sich zu Recht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht (Urteile 6B_1202/2021 vom 11. Februar 2022 E. 1.8.2; 6B_299/2020 vom 13. November 2020 E. 2.3.3 mit weiteren Hinweisen).”
@Elia: Murray fand ich schon kritisch. Aber den jetzt immer weiter auslegen zu wollen führt zur Aufgabe von nemo tenetur. Ich bin je länger je mehr dafür, ein Aussageverbot für beschuldigte Personen einzuführen. Alles was sie trotzem aussagen, ist absolut unverwertbar.
Diese bundesgerichtliche Rechtsprechung hat sich bei Verkehrsregelverletzungen etabliert, bei denen nicht unmittelbar bewiesen werden kann, wer gefahren ist. Hier schliesst man von der Haltereigenschaft und der Aussageverweigerung – nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung – rechtsgenüglich auf die Täterschaft des Fahrzeughalters (sofern dieser nicht widerlegen kann, dass er das Fahrzeug gewöhnlicherweise nicht fährt). Bezüglich Ordnungsbussen hat man diesen faktischen Beweisumkehrschluss mittlerweile ja sogar gesetzlich etabliert. Es scheint mir, dass das Bundesgericht diesbezüglich, zur “Bewältigung” von massenweise vorkommenden Delikte, eher bereit ist, vom Prinzip nemo tenetur abzurücken und dass diese Haltung nicht tel quel auf sämtliche Delikte übertragen werden kann.
Jegliche Einschränkung des Schweigerechts (“zu ihrer Entlastung erforderliche Angaben zu machen, bzw. es unterlässt, entlastende Behauptungen näher zu substanziieren, obschon eine Erklärung angesichts der belastenden Beweiselemente vernünftigerweise erwartet werden darf”) führt zu einer Verschiebung der Beweislastregel (Misslingen des Unschuldsbeweises) und verstösst damit gegen den Grundsatz “in dubio pro reo” als Teilgehalt der Unschuldsvermutung (vgl. Tophinke, Das Grundrecht der Unschuldsvermutung, Bern 2000, S. 203-204 mit Hinweisen auf BGE i.S. G.B. vom 8.3.1993, E.3 und 1P.211/1997, E.4 [nicht oder nicht mehr online publiziert]: Z.B. hatte das Gericht vom Angeklagten eine substanziierte Gegendarstellung verlangt, um die Sachdarstellung der Staatsanwaltschaft zu widerlegen. Und im anderen Fall wurde der Angeklagte einzig verurteilt, weil er sein Alibi nicht nachweisen konnte).
So widerspricht die oben (@en_d) dargestellte BGer-Praxis 2021 ihrer früheren. Was leider nicht (mehr) erstaunt. Aber sowohl BGer als auch EGMR haben noch grössere Leichen im Keller. Welche auf derselben Stufe mit der Unrechtsprechung in Diktaturen stehen.
Die Argumentation in der eingangs zitierten Stelle aus dem Urteil ist absurd. Dann brauchen wir die Unschuldsvermutung nicht mehr.
Man könnte ja genau gleich absurd argumentieren, wenn man aus der Tatsache, dass sich Personen vor Gericht durch Rechtsanwälte vertreten lassen, dass dann etwas “faul” sein müsste. So im Stil von, wer sich nichts vorzuwerfen habe, brauche keinen anwaltlichen Beistand. So weit kommen wir noch!
Deine Analogie gefällt mir, denn sie bringt die Sache auf den Punkt (pun intended). Genauso unsinnig wäre es, aus der Nutzung anderer rechtlicher Möglichkeiten, wie etwa der Beratung durch die Steuerbehörde, auf Steuerhinterziehung zu schliessen.
Wörterbuchbenutzung: Sollte man jemandem, der ein Wörterbuch verwendet, unterstellen, die Sprache nicht zu beherrschen? Vielmehr ist doch das Gegenteil der Fall.
Rechtskommentare: Sollte man behaupten, dass jemand, der die BSK zu Rate zieht, die Rechtsprechung nicht versteht? Auch hier gilt: Genau das Gegenteil ist der Fall.
Aber ja, “Ad Absurdum ist die höchste Form der Logik” würde man meinen, wenn man sich solche Urteile durchliest.