Bareggblockade: Urteilsbegründung online

Das Bundesgericht hat heute das Urteil gegen die Gewerkschaftsfunktionäre ins Netz gestellt, welche am 4. November 2002 die Blockade des Autobahntunnels Baregg organisiert hatten (BGer 6B_98/2007 vom 03.04.2008, BGE-Publikation vorgesehen). Die Vorinstanz hatte sie wegen Nötigung (Art. 181 StGB) zu bedingten Geldstrafen von 14 Tagessätzen und zu Bussen von 500 Franken verurteilte, wobei die Tagessätze auf 200, 125, 190 respektive 250 Franken festgesetzt wurden. Hier ein paar Auszüge aus dem Urteil:

Zum Nötigungsmittel:

Im vorliegenden Fall wurden im Rahmen der von den Beschwerdeführern geplanten, vorbereiteten und organisierten Aktion zirka 30 Busse und zahlreiche weitere Motorfahrzeuge auf der Fahrbahn der Autobahn abgestellt und auf diese Weise ein Hindernis errichtet (E. 4.4.2).

Zum Nötigungszweck:

Durch die Errichtung des Hindernisses wurden die übrigen Verkehrsteilnehmer genötigt, etwas zu tun, zu dulden und zu unterlassen, nämlich anzuhalten, zu warten und nicht weiterzufahren. (E. 4.4.2).

Zum “Fernziel”:

Die Blockadeaktion wurde im Hinblick auf die Forderung nach der Einführung eines flexiblen Altersrücktritts ab dem 60. Altersjahr durchgeführt. Dies ist nicht der Nötigungszweck im strafrechtlichen Sinne. Die betroffenen Verkehrsteilnehmer wurden nicht zur Einführung des flexiblen Altersrücktritts, sondern zum Anhalten und Warten genötigt. Die geforderte Einführung des flexiblen Altersrücktritts ist im vorliegenden Fall das Fernziel der Nötigung (E. 4.4.2).

Zum Tatmotiv:

Die Blockadeaktion wurde von den Beschwerdeführern organisiert, um auf dieses Fernziel aufmerksam zu machen und ihm allenfalls etwas näher zu kommen  (E. 4.4.2). 

Zum Unterschied zu Verkehrsstaus, die von Fussballfans ausgelöst werden:

Das Verhalten der feiernden Anhänger lässt sich nicht als ein bewusst eingesetztes Mittel zum Zwecke der Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer verstehen. Davon unterscheidet sich der inkriminierte Fall wesentlich. Die Beschwerdeführer verfolgten mit der von ihnen geplanten, vorbereiteten und organisierten Aktion den Zweck, einen Verkehrsstau zu provozieren. Damit sollte nach den Vorstellungen der Beschwerdeführer unter anderem dargestellt werden, wie wichtig die Autobahntunnels und damit die Bauarbeiter sind, deren Tätigkeit im Tunnelbau besonders anstrengend ist (E. 4.4.4).

Zum Verhältnis zum Streikrecht (Art. 28 Abs. 3 BV):

Vielmehr ist stets zu prüfen, ob eine bei Gelegenheit eines rechtmässigen Streiks ergriffene Massnahme überhaupt ein Mittel des Arbeitskampfes und gegebenenfalls verhältnismässig und rechtmässig ist. […]. Die Blockadeaktion am Bareggtunnel war nicht gegen den Arbeitskampfgegner, sondern gegen unbeteiligte Dritte gerichtet, die im Übrigen nichts zur Erfüllung der Forderung nach einem flexiblen Altersrücktritt beitragen konnten. Die Blockadeaktion stellt daher keine Arbeitskampfmassnahme dar, die unter der gebotenen Berücksichtigung des verfassungsmässigen Streikrechts rechtmässig sein könnte (E. 5.1.2).

Zum Verhältnis zur Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV, Art. 11 EMRK):

Das Zusammentreffen der Bauarbeiter am und im Bareggtunnel kann allenfalls auch unter derartigen Umständen als eine Versammlung im weiten verfassungsrechtlichen Sinne qualifiziert werden. Daraus folgt aber nicht, dass die Aktion rechtmässig war. Die Behinderung der Verkehrsteilnehmer war nicht eine von den Beschwerdeführern bloss in Kauf genommene, mehr oder weniger unvermeidliche Folge einer Versammlung von Bauarbeitern im öffentlichen Raum. Sie war nach dem Plan der Beschwerdeführer vielmehr die angestrebte Folge einer gezielten Blockadeaktion, indem durch das Abstellen der zirka 30 gemieteten Busse und der weiteren Fahrzeuge auf der Autobahn medienwirksam ein unüberwindliches Hindernis errichtet und dadurch auf dem stark befahrenen Autobahnabschnitt kilometerlange Staus provoziert wurden. Damit tritt die allfällige Versammlung der Bauarbeiter im Rahmen der gesamten von den Beschwerdeführern geplanten und organisierten Aktion in den Hintergrund (E. 5.2.2).

Zum Verhältnis zur Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 16 BV):

Die meisten im Stau festsitzenden Verkehrsteilnehmer konnten aufgrund ihrer Entfernung vom Ort des eigentlichen Geschehens weder allfällige Parolen wahrnehmen noch überhaupt den Grund für den Stau erkennen. Die Blockadeaktion am Bareggtunnel war – im Unterschied zu anderen am Streiktag durchgeführten Aktionen – gar nicht geeignet und konnte daher auch nicht bezwecken, Dritte im öffentlichen Raum über die Anliegen der Streikenden zu informieren. Die in den Staus festsitzenden Verkehrsteilnehmer waren in ihrer überwiegenden Mehrheit bloss Statisten für die von den Beschwerdeführern organisierte spektakuläre Aktion, die im Wesentlichen eine erhöhte Medienaufmerksamkeit für das Anliegen der Streikenden bezweckte, worauf jedoch kein verfassungsrechtlicher Anspruch besteht (E. 5.3.2).

Zum Vergleich mit der Blockade der Brenner-Autobahn (EuGH, Rs.C-112/00, Rec. 2003, S. 1-05659):

Jener Fall unterscheidet sich vom vorliegenden in tatsächlicher Hinsicht wesentlich unter anderem darin, dass die Blockade der Brenner-Autobahn bereits rund einen Monat vorher angekündigt worden war. Demgegenüber wurde die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildende Blockade nicht im Voraus angekündigt und lag ihr Zweck gerade auch darin, möglichst grosse und damit spektakuläre Verkehrsstaus zu provozieren (E. 6.3).

Das eigentliche Highlight des Entscheids bildet aber E. 6.6, welche zeigt, welche Art von Rügen aus einem völlig verkehrten Rechtsverständnis heraus entstehen kann:

Die Beschwerdeführer behaupten, gerade auch wegen der Aktion am Bareggtunnel habe wenige Tage später der Arbeitgeberverband eingelenkt. Daraus ziehen sie den Schluss, dass die Aktion notwendig und verhältnismässig gewesen sei. Der behauptete Kausalzusammenhang ist gemäss den Ausführungen im angefochtenen Entscheid mehr als zweifelhaft und nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz jedenfalls rechtlich unerheblich. Eine Straftat, auch eine Nötigung, wird nicht dadurch rechtmässig, dass die Täter das damit angestrebte und grundsätzlich nachvollziehbare Fernziel erreichen (E. 6.6).

Das Urteil ist im Ergebnis sicher richtig. Ob dem Bundesgericht damit ein grosser Wurf gelungen ist, wage ich aber zu bezweifeln. Die Abgrenzungen zwischen Zweck, Fernziel und Motiv sind m.E. etwas unscharf. Die Unterschiede zu den offenbar von den Beschwerdeführern ins Spiel gebrachten Vergleichssituationen (Fussballfans, Brenner-Autobahn) werden nicht klar. Es kann ja wohl in strafrechtlicher Hinsicht kaum entscheidend sein, ob die Nötigung angekündigt wird. Ich bin gespannt, wie das Urteil in der Lehre aufgenommen wird.