Bedingter Führerausweis

Das Bundesgericht weist die  Laienbeschwerde eines Automobilisten ab, der sich im Verfahren gegen ihn passiv verhielt und eine ganze Reihe von Verfassungsrügen vortrug (BGer 6B_439/2010 vom 29.06.2010). Der Beschwerdeführer machte geltend, dass ihn das Verfassungsrecht ausdrücklich davon befreie

irgendwelche Erklärungen abzugeben, zumal die Behörden ihn zuvor nie als Zeugen befragt hätten und er seine Passivität erklärt habe. “Weitere Äusserungen konnten zufolge genannter Rechtssätze nicht von ihm verlangt werden, ansonsten ein unzulässiger Aussagezwang geschaffen und die Schweigebefugnis verletzt würde.” (E. 1.3).

Das Bundesgericht tritt auf einen Teil der Rügen des Beschwerdeführers mangels hinreichender Begründung oder ausdrücklicher Rüge von Rechtsverletzungen nicht ein, tat sich aber trotzdem erstaunlich schwer mit der Abweisung. Das aufwändig begründete Urteil enthält denkwürdige Sätze wie den folgenden:

Der Führerausweis wird ihm nur unter der Bedingung des gesetzeskonformen Verhaltens ausgestellt (E. 5.6).

Unschuldsvermutung und nemo-tenetur-Grundsatz (vgl. BGE 131 IV 36 E. 3.1) stehen in einem komplexen Zusammenhang (E. 5).

Aussagen, auch jene des Angeklagten, sind ordentliche Beweismittel. Fehlt eine solche Aussage, fehlt lediglich ein solches Beweismittel (E. 5.5).

Auch Geständnisse müssen auf ihre Zuverlässigkeit geprüft werden wie jedes andere Beweismittel (E. 5.5).

Strafurteile ergehen häufig auf der Grundlage von Indizien (E. 5.7).

Zum komplexen Zusammenhang zwischen nemo tenetur und in dubio füllt das Bundesgericht mehrere Seiten (und weist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wegen Aussichtslosigkeit ab):

 

5.1 Die Vorinstanz beruft sich auf das erwähnte Urteil 1P.641/2000. Nach diesem Urteil kann der Strafrichter nicht einfach aus dem Schweigen auf die Schuld schliessen. “C’est seulement si les preuves à charge appellent une explication que l’accusé devrait être en mesure de donner, que l’absence de celle-ci peut permettre de conclure, par un simple raisonnement de bon sens, qu’il n’existe aucune explication possible et que l’accusé est coupable” (a.a.O., E. 3). Diese Erwägung bekräftigt lediglich die allgemein anerkannte Praxis, dass Schweigen die Annahme der Täterschaft nicht ausschliesst, wenn diese nicht zweifelhaft ist (Urteil 6B_571/2009 vom 28. Dezember 2009 E. 3.1). Das Bundesgericht stützte sich im Urteil 1P.641/2000 auf die frühere Rechtsprechung des EGMR. Inzwischen entschied es, dass auch das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten (nemo-tenetur-Grundsatz), einer Verurteilung wegen Vereitelung einer Blutprobe nicht entgegensteht (BGE 131 IV 36). Sich auf das Aussageverweigerungsrecht zu berufen oder die Möglichkeit ins Spiel zu bringen, nicht gefahren zu sein, hindert nicht, eine Täterschaft anzunehmen (Urteil 6B_676/2008 vom 16. Februar 2009 E. 1.3; Urteil 6B_41/2009 vom 1. Mai 2009). In einem weiteren Fall beschränkte sich der Angeklagte bei der Befragung durch das Strafgericht zum Grund seiner Einsprache gegen den Strafbefehl, zu seinem Aufenthaltsort zur Zeit der Bildaufnahme und zur Frage, ob er seinen Porsche eventuell ausgeliehen hatte, auf die Erklärungen, er möchte dazu nichts sagen. Es sprach alles dafür und nichts dagegen, dass er selber seinen Porsche in jenem Zeitpunkt gelenkt hatte, als er geblitzt wurde. Unter diesen Umständen auf seine Täterschaft zu schliessen, verstiess nicht gegen Art. 6 Ziff. 2 EMRK und Art. 32 Abs. 1 BV (Urteil 6B_571/2009 vom 28. Dezember 2009 E. 3.3).
5.2 Obwohl in der Konvention nicht eigens erwähnt, gehört das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten, zum allgemein anerkannten internationalen Standard eines fairen Verfahrens im Sinne von Art. 6 EMRK. Aus diesem Recht ergibt sich insbesondere, dass die Behörden die Anklage beweisen müssen, ohne auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch Zwang oder Druck in Missachtung des Willens des Angeklagten erlangt worden sind (Urteil Marttinen gegen Finnland vom 21. April 2009, Ziff. 60). Nach der Praxis des EGMR verletzt nicht jede Einwirkung (“not all coercive measures”) zur Durchsetzung einer Informationspflicht dieses Recht. Wird die Informationspflicht als solche mit Bussenzwang belegt, kann das aber zu einer Konventionsverletzung führen (Urteil Marttinen, a.a.O., Ziff. 67 ff.).
5.3 Die Unschuldsvermutung ist ein Menschenrecht und ihre Beachtung für ein faires Verfahren grundlegend. Sie ist im regionalen (Art. 6 Ziff. 2 EMRK) wie globalen (Art. 14 Ziff. 2 UNO-Pakt II) Völkerrecht sowie in vielen internationalen Vertragswerken und insbesondere in Art. 32 Abs. 1 BV kodifiziert. Im Einzelnen handelt es sich um ein höchst komplexes Menschenrecht. Die massgebliche Praxis des EGMR zeigt, dass die Unschuldsvermutung und die daraus abgeleiteten Rechte – anders als der Grundsatz des fairen Verfahrens gemäss Art. 6 EMRK (unqualified right) – nicht “absolut” gelten (qualified right; Zusammenfassung der Rechtsprechung im Urteil des EGMR [Grosse Kammer] in der Sache O’Halloran and Francis gegen Grossbritannien vom 29. Juni 2007, insb. Ziff. 53; teilweise publ. in: forumpoenale 1/2008 S. 2 mit Bemerkungen von WOLFGANG WOHLERS). Zur Beurteilung, ob das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten, verletzt ist, stellt der EGMR auf die Natur und den Grad des angewandten Zwangs zur Erlangung des Beweismittels, die Verteidigungsmöglichkeiten sowie den Gebrauch des Beweismaterials ab (“the Court will focus on the nature and degree of compulsion used to obtain the evidence, the existence of any relevant safeguards in the procedure, and the use to which any material so obtained was put” [a.a.O., Ziff. 55]). Der EGMR führte in der Sache aus, die unter Strafandrohung erfolgte Aufforderung an einen Fahrzeughalter, die Person zu nennen, die das Fahrzeug während der Geschwindigkeitsüberschreitung gelenkt hatte, verstosse nicht gegen das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten. Der Gerichtshof wies darauf hin, dass sich jeder Halter oder Lenker eines Motorfahrzeugs der Strassenverkehrsgesetzgebung unterwirft (“All who own or drive motor cars know that by doing so they subject themselves to a regulatory regime. […] Those […] can be taken to have accepted certain responsibilities and obligations as part of the regulatory regime relating to motor vehicles […]” [a.a.O., Ziff. 57]).
5.4 Somit ergeben sich nach der neueren bundesgerichtlichen und konventionsrechtlichen Rechtsprechung für Halter und Lenker von Motorfahrzeugen aus ihrer Akzeptanz der Strassenverkehrsgesetzgebung sowie ihrer Fahrberechtigung gewisse Obliegenheiten. Der Beschwerdeführer stellt sich dagegen auf den Standpunkt, er sei gesetzlich befugt, sich völlig passiv zu verhalten. Daraus dürften keine für ihn nachteiligen Schlüsse gezogen werden. Dabei ist zu unterscheiden: Er ist grundsätzlich (vgl. aber oben E. 5.2 und 5.3) befugt, sich im Strafverfahren “völlig passiv” zu verhalten und zu schweigen. Er kann also jede Kooperation verweigern. Wird ihm dies, wie vorliegend geschehen, uneingeschränkt zugestanden, scheidet auch eine Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes aus. Er wurde nicht gezwungen, sich zu belasten. Und er wurde auch nicht bestraft, weil er den Strafbehörden keine Informationen lieferte.
5.5 Aussagen, auch jene des Angeklagten, sind ordentliche Beweismittel. Fehlt eine solche Aussage, fehlt lediglich ein solches Beweismittel. Beweismittel unterliegen der freien richterlichen Beweiswürdigung. Es finden sich im modernen Prozessrecht keine Beweisregeln mehr, wonach ein Geständnis Voraussetzung einer Verurteilung ist. Auch Geständnisse müssen auf ihre Zuverlässigkeit geprüft werden wie jedes andere Beweismittel.
Damit zentriert sich die Frage auf die in Art. 32 Abs. 1 BV verankerte Unschuldsvermutung (“Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.”), in welcher der Grundsatz in dubio pro reo als “Beweislastregel” begründet ist. Es ist Sache der Anklagebehörde, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, und nicht dieser hat seine Unschuld nachzuweisen (BGE 127 I 38 E. 2a). Als “Beweiswürdigungsregel” besagt der Grundsatz hingegen, dass sich das Gericht nicht von der Existenz eines für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Das Bundesgericht prüft eine Verletzung des Grundsatzes als Beweislastregel frei und als Beweiswürdigungsregel auf Willkür (Art. 9 BV). Es hebt einen Entscheid auf, wenn die Vorinstanz den Angeklagten verurteilt, obwohl bei objektiver Würdigung des Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche bzw. schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an dessen Schuld fortbestanden (BGE 127 I 38 E. 2a; 120 Ia 31). Willkür setzt voraus, dass der Entscheid schlechterdings unhaltbar ist, d.h. mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, auf einem offenkundigen Versehen beruht oder sich sachlich in keiner Weise rechtfertigen lässt (BGE 133 III 589 E. 4.1; 131 I 217 E. 2.1, 467 E. 3.1).
5.6 Wer vor Bundesgericht eine Grundrechtsverletzung geltend machen will, den trifft eine qualifizierte Rügepflicht. Es ist an ihm darzulegen, womit er nicht einverstanden ist, und er muss das begründen (Art. 106 Abs. 2 BGG). Den Beschwerdeführer treffen nach der erwähnten Rechtsprechung aufgrund seiner Akzeptanz der Strassenverkehrsgesetzgebung und seiner darauf beruhenden Fahrberechtigung gewisse Obliegenheiten (oben E. 5.4). Der Führerausweis wird erteilt, wenn die amtliche Prüfung ergeben hat, dass der Bewerber die Verkehrsregeln kennt und Fahrzeuge der Kategorie, für die der Ausweis gilt, sicher zu führen versteht (Art. 14 Abs. 1 SVG). Der Führerausweis wird ihm nur unter der Bedingung des gesetzeskonformen Verhaltens ausgestellt. Es treffen ihn deshalb neben den Verhaltenspflichten vielfältige Auskunftspflichten gegenüber den Behörden. Weigert er sich, kann er dazu nicht gezwungen werden. Er muss aber trotzdem die Konsequenzen tragen. Die Behörden haben den Sachverhalt abzuklären und gesetzmässig in einem fairen Verfahren zu entscheiden. Verzichtet der Betroffene auf jegliche Mitwirkung, begibt er sich der Möglichkeit, auf sein Verfahren einzuwirken und seine Interessen aktiv wahrzunehmen. Das kann aber die Behörden nicht an ihrer gesetzlichen Aufgabe hindern. Zu prüfen ist dann insoweit nur noch, ob die Behörden wirksame Verteidigungsmöglichkeiten gewährt und das Beweismaterial gesetzmässig verwendet haben (oben E. 5.3). Das dies nicht geschehen wäre, behauptet der Beschwerdeführer nicht einmal und ist auch nicht ersichtlich.
5.7 Gegen die Beweiswürdigung richtet sich der Beschwerdeführer in keiner Weise. Er legt nicht dar, inwiefern die angefochtene Beweiswürdigung Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2 BGG). Er setzt sich im Gegenteil mit den tatsächlichen Grundlagen des angefochtenen Urteils nicht auseinander und wendet in tatsächlicher Hinsicht auch nichts dagegen ein. Er bringt keine Tatsachen vor, die Zweifel wecken könnten, dass sich der Sachverhalt so verwirklicht hat, wie ihn die Vorinstanz zugrunde gelegt hat. Unter dem Gesichtspunkt der Beweislastregel macht der Beschwerdeführer lediglich in allgemeiner Form geltend, es verletze seine Unschuldsvermutung, wenn aus seiner Haltereigenschaft auf seine Tätereigenschaft geschlossen werde. Indessen ist die Tatsache, dass er der Halter des Fahrzeugs ist, mit dem die Zuwiderhandlungen gegen das Strassenverkehrsrecht begangen wurden, ein Indiz dafür, dass er dieses Fahrzeug gebraucht. Dass diese Annahme nicht fern liegt, beweist die Tatsache, dass er einen der Schuldsprüche, der in einem vergleichbaren Raster liegt, anerkennt (oben E. 2). Strafurteile ergehen häufig auf der Grundlage von Indizien. Dieses Vorgehen ist allgemein anerkannt und verletzt als solches weder die Unschuldsvermutung noch die aus ihr abgeleiteten Teilrechte.
Die Analyse der Erwägung kann möglicherweise das eine oder andere Argument für die Verteidigung in künftigen Fällen liefern. Die kantonalen Gerichte werden es sich aber einfacher machen und die schweigenden Halter weiterhin verurteilen, jedenfalls dann, wenn noch ein anderes Indiz aus den Akten geklaubt werden kann. Hier hat sich das Bundesgericht an ein Indiz berufen, das m.E. keines sein kann:
Indessen ist die Tatsache, dass er der Halter des Fahrzeugs ist, mit dem die Zuwiderhandlungen gegen das Strassenverkehrsrecht begangen wurden, ein Indiz dafür, dass er dieses Fahrzeug gebraucht. Dass diese Annahme nicht fern liegt, beweist die Tatsache, dass er einen der Schuldsprüche, der in einem vergleichbaren Raster liegt, anerkennt (E. 5.7).
Das könnte man genauso gut umgekehrt sehen, oder nicht?