Begründungsanforderungen für StPO-Berufungen
Etliche kantonale Obergerichte versuchen weiterhin, sich die strenge Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Nutze zu machen, indem sie dieselben Ansprüche an die Begründung von Rechtsmitteln stellen (vgl. meinen letzten Beitrag zum Thema).
Dabei verkennen sie jedenfalls im Ergebnis, dass sich eine BGG-Beschwerde von den StPO-Rechtsmitteln Beschwerde massgeblich unterscheidet. Das Bundesgericht bringt dies in einem heute publizierten Entscheid – einmal mehr – wie folgt zum Ausdruck (BGer 6B_8/2016 vom 17.01.2016)
Mit diesen Ausführungen verkennt die Vorinstanz, dass sie Rechtsmittelbehörde mit umfassender Kognition in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ist (vgl. Art. 398 Abs. 2 und 3 StPO; BGE 141 IV 244 E. 1.3.3 mit Hinweisen; Urteil 6B_731/2015 vom 14. April 2016 E. 1.2.2). Tritt sie auf eine Berufung ein, fällt sie ein neues, den erstinstanzlichen Entscheid ersetzendes Urteil (vgl. Art. 408 StPO) und kann sich nicht mit einer Überprüfung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung und Rechtsanwendung begnügen. Daran ändert die Möglichkeit, im Rechtsmittelverfahren auf die Begründung der Erstinstanz zu verweisen, nichts (vgl. BGE 141 IV 244 E. 1.3.3 mit Hinweisen). Indem die Vorinstanz ihre Kognition in unzulässiger Weise beschränkt, verweigert sie dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör (vgl. Urteil 6B_497/2014 vom 6. März 2015 E. 1.4 mit Hinweisen) [E. 2.3].
Die erfolgreiche Rüge des Beschwerdeführers lautete übrigens wie folgt:
Der Beschwerdeführer rügt mehrfach (…), die Vorinstanz verletze Bundesrecht, indem sie ihm wiederholt eine qualifizierte Rechtsrügeverpflichtung zuweise und damit ihre Kognition in unzulässiger Weise beschränke (E. 2.1).
Daraus wird dann gemäss Bundesgericht die Verletzung des Gehörsanspruchs.
Das Bundesgericht befasste sich mit den Begründungsanforderungen in einer Berufung. Müsste der Titel Deines Post’s nicht heissen „Begründungsanforderungen für StPO-Berufungen“?
@Niklaus Ruckstuhl: Danke, Du hast Recht. Ich ändere es.
Angefochten war eine Verfahrens-Einstellung der Staatsanwaltschaft. X. hat dagegen eine StPO-Beschwerde erhoben. Das Obergericht hat diese Beschwerde am 28. Oktober 2015 abgewiesen. entschieden, dass die Begründungsanforderungen nicht erfüllt seien (Art. 396 StPO: Die Beschwerde ist zu begründen).
Das Bundesgericht spricht dann in E. 2.3. nur von der Berufung und setzt sich nicht damit auseinander, ob das Obergericht zu Recht angenommen hat, die Beschwerde sei nicht hinreichend begründet. Wenn schon hätte das Bundesgericht vorwerfen können, das Obergericht habe zu hohe Anforderungen an die Begründung einer StPO-Beschwerde gestellt und damit Art. 396 StPO verletzt…
Beschwerde, nicht Berufung. Richtig erkannt, danke!
Ja, eben, es geht doch um eine kantonale Beschwerde und nicht um eine Berufung, wenn man den Sachverhalt liest. Folglich sind die Ausführungen des Bundesgerichts zur Rechtsprechung betreffend Berufung überflüssig. Zur Begründungsanforderung an eine Beschwerde hat es sich nicht geäussert. Die Anforderungen können durchaus unterschiedlich sein. Bei der Berufung fällt die Rechtsmittelinstanz einen eigenen Entscheid, der den erstinstanzlichen Entscheid ersetzt. Eine Beschwerde wird demgegenüber i.d.R. gutgeheissen oder abgewiesen. Die Beschwerdeinstanz muss sich nur mit den erhobenen Rügen befassen und nicht einen komplett neuen Entscheid fällen. Diesen Entscheid des BGer kann man wohl nicht gebrauchen.
Eigentlich vielmehr Kategorie Fehlurteil des Jahres: Das Bundesgericht entscheidet und begründet vollständig am Thema vorbei… Ein peinliches Urteil für Frau Gerichtsschreiberin Siegenthaler, aber auch die involvierten Richter/in. Und nun? Was sind die Folgen dieser Unfähigkeit unserer höchsten Justizbehörde?
Keine Folgen. Zu Recht. Fehler können auf jeder Stufe passieren. Auch Gerichtschreiberinnen. Die Schreiber sind ohnehin nicht für die Urteile verantwortlich, sicher jedenfalls nicht für die Urteilsdispositive. Daran ändert die Tatsache nichts, dass sie bisweilen mehr Einfluss zu haben scheinen als die Richterinnen. Aber vielleicht ist das nur ein Gerücht.