Belehrungspflichten nicht offensichtlich verletzt?
Nach dem Grundsatz “nemo tenetur” muss niemand den Zugangscode seines Smartphones, welches die Polizei sichergestellt hat, bekannt geben. Aus einem aktuellen Entscheid des Bundesgerichts (BGer 1B_535/2021 vom 19.05.2022) geht hervor, dass ein wegen kognitiver Defizite notwendig verteidigter Beschuldigter den Zugangscode anlässlich einer Hausdurchsuchung herausgegeben hat. Er machte folgendes geltend:
Die Polizei habe ihn jedoch nicht darüber informiert, dass er berechtigt sei, seine Aussage und Mitwirkung zu verweigern. Überdies habe er im Zeitpunkt der Hausdurchsuchung bereits einen notwendigen Verteidiger gehabt, der ihm nach Art. 130 lit. c StPO wegen kognitiven Defiziten beigegeben worden sei. Der Verteidiger sei bei der Hausdurchsuchung nicht anwesend gewesen. Der Code dürfe deshalb nicht verwendet werden.
Das Bundesgericht macht es sich einfach. Es führt sinngemäss aus, der Beschwerdeführer sei ja anlässlich der Durchsuchung gar nicht einvernommen worden und habe daher auch nicht über seine Rechte i.S.v. Art. 158 StPO belehrt werden müssen, was zur absoluten Unverwertbarkeit des Codes geführt hätte.
Die Polizeibeamten haben den Beschwerdeführer bei der Hausdurchsuchung nicht zu den ihm vorgeworfenen Straftaten befragt. Gemäss Art. 245 Abs. 2 Satz 1 StPO haben anwesende Inhaberinnen und Inhaber der zu durchsuchenden Räume der Hausdurchsuchung beizuwohnen. Dies dient unter anderem der Erleichterung der Hausdurchsuchung und erlaubt es den diese durchführenden Polizeibeamten insbesondere, dem Inhaber Fragen zu stellen etwa dazu, welche Räume er bewohnt und was sich in einem Behältnis befindet. Bei derartigen Fragen, welche die Hausdurchsuchung erleichtern sollen, dürfte es sich um keine Einvernahme handeln. Art. 157 f. StPO dürften deshalb nicht anwendbar sein. Jedenfalls ist die Anwendung dieser Bestimmungen nicht offensichtlich und damit auch nicht die Pflicht der Polizeibeamten, den Beschuldigten nach Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO darauf hinzuweisen, dass er die Aussage und die Mitwirkung verweigern kann. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher nach der dargelegten Rechtsprechung im vorliegenden Entsiegelungsverfahren nicht angenommen werden, weil die Polizeibeamten den Beschwerdeführer vor der Herausgabe des Codes nicht darüber aufgeklärt haben, dass er die Aussage und Mitwirkung verweigern kann (E. 2.3, Hervorhebungen durch mich).
Die Konjunktive legen nahe, dass das Bundesgericht von seiner Argumentation selbst nicht überzeugt ist. Damit war es im konkreten Fall im Ergebnis mit dem Gesetz vereinbar, den kognitiv beeinträchtigten Beschuldigten hereinzulegen, indem er in Abwesenheit seines notwendigen Verteidigers nicht über das Recht aufgeklärt wurde, den Code nicht herausgeben zu müssen. Den Rest, nämlich den Tatverdacht und die Durchsuchung des ganzen Mobiltelefons, begründet das Bundesgericht mit den offenbar vorhandenen Anzeichen einer pädophilen Neigung.
Was hat sich dieser Anwalt auch nur gedacht…
Zu behaupten, dass ein Beschuldigter, der nach dem Gesetz seine Verfahrensinteressen in keinem Fall ausreichend wahren kann, dies auch dann nicht kann, wenn mehrere Polizisten ihn nach seinem Gerätecode fragen, für welchen nach Rechtsprechung des Bundesgerichts keine Mitwirkungs- bzw. Herausgabepflicht besteht.
Ist ja klar, dass es sich dabei auch nicht um ein verbotenes Mittel handelt, das seine nicht ausreichend bestehende Denkfähigkeit beeinträchtigen könnte.
Und mitwirken musste er ja nicht, weil es nichts mitzuwirken gab, denn es war ja keine Beweiserhebung…
Da ist man froh, dass sich der Rechtsstaat Schweiz wieder einmal behauptet hat und die schwache Staatsgewalt vor dem übermächtigen, geistig eingeschränkten Beschuldigten geschützt hat.
In der Tat ein grandioser Entscheid. Anders als das Vorliegen einer Einvernahmesituation oder die Verwendung verbotener Beweiserhebungsmethoden ist der Tatverdacht natürlich offensichtlich.
“Beim Beschwerdeführer bestehen Anzeichen für eine pädophile Neigung. Damit wäre es weltfremd anzunehmen, dass er Bilder kinderpornografischen Inhalts einzig am 16. Mai 2021 verschickt haben konnte. Vielmehr besteht ein hinreichender Verdacht, dass er solche Bilder auch an anderen Tagen verschickt haben könnte.” (E. 3.3.)
Anzeichen für eine gewisse Neigung (was auch immer das genau sein soll) und der Tatverdacht hinsichtlich einer einmaligen Tatbegehung begründen also automatisch einen hinreichenden Tatverdacht hinsichtlich einer mehrfachen Tatbegehung. Lässt sich das übertragen?
Beim Beschwerdeführer bestehen Anzeichen für eine Neigung zu Geld. Damit wäre es weltfremd anzunehmen, dass er einzig am 16. Mai 2021 [ein Vermögensdelikt] begangen haben konnte. Vielmehr besteht ein hinreichender Verdacht, dass er [gleiches Vermögensdelikt oder gar weitere] auch an anderen Tagen begangen haben könnte.
Oder geht es nur um die pädophile Neigung und Personen mit einer entsprechenden Neigung soll von vornherein die Möglichkeit einer deliktsfreien Lebensführung abgesprochen werden? Weshalb dann überhaupt noch ein Anlassdelikt verlangen und nicht gleich Hausdurchsuchungen und die Durchsuchung der Mobiltelefone bei all jenen anordnen, bei welchen Anzeichen für eine pädophile Neigung festgestellt wurden?
Aber schön erschien die nicht hinreichend substanziierte Beschwerde nicht von vornherein als aussichtslos.
Vielen Dank, Herr Jeker, für diesen Entscheid. Was mir nicht ganz klar ist: Warum beschäftigt man sich in einem Beschwerdeverfahren gegen einen Entsiegelungsentscheid mit der Unverwertbarkeit einer Tatsache, die an sich für die Zulässigkeit der Siegelung als solcher (und darum gehts hier doch?) gar nicht relevant ist? Ob die Angaben des Beschuldigten zum Zugangscode verwertbar sind oder nicht, betrifft doch eher die praktische (Folge-)Frage, ob die Strafverfolger nun das (entsiegelte) Handy “knacken” müssen oder ob sie die Info des Beachuldigten verwenden dürfen? Aber mit der (Ent-)Siegelung als solcher hat das aus meiner Sicht nichts zu tun (?). Vielleicht kann mir da ja jemand helfen…
Sehe ich genau gleich und ist für mich ebenfalls nicht schlüssig.
Weil vom Beschwerdeführer geltend gemacht wurde, dass es den Strafbehörden obliege, die Rechtmässigkeit der Beweiserhebung zu belegen. Aufgrund der Umgehung des Grundsatzes von “nemo tenetur” bei der Nachfrage für den Pin könne die Strafbehörde nicht mehr belegen, ob sie das Natel auch ohne Pin knacken könnten und der Beschwerdeführer könne dies auch nicht mehr überprüfen. Weil Art. 140 und Art. 141 StPO verletzt würden, komme ein absolutes Verbot für die Verwertbarkeit der dadurch erlangten Beweismittel zum Zuge. Aus diesem Grund dürfe das Mobiltelefon nach Art. 248 Abs. 1 “aus anderen Gründen” überhaupt nicht mehr durchsucht werden.
Das Hauptargument war aber, dass bereits eine amtliche Verteidigung bestand und zwar weil erwiesen war, dass der Beschwerdeführer geistig beeinträchtigt ist und seine Verfahrensrechte nicht selbst wahren kann (Art. 130 lit. c StPO). Weil dieser trotzdem ohne sein Verteidiger zur Mitwirkung “verleitet” wurde, obwohl er an sich gar nicht selbst rechtsgenüglich darüber entscheiden kann, handle es sich um eine Täuschung nach Art. 140 Abs. 1 StPO, welche die bereits nicht vollständig bestehende Denkfähigkeit weiter beeinträchtigt habe. Somit komme das absolute Beweisverwertungsverbot nach Art. 141 Abs. 1 StPO zum Zuge, selbst wenn der Beschwerdeführe in die Methode eingewilligt habe (Art. 140 Abs. 2 StPO).
Offenbar war die Denkfähigkeit des Anwaltes aber auch eingeschränkt, zumal er eines Besseren belehrt wurde.
Das mag vielleicht der Grund für die Formulierung im Konjunktiv sein. D.h., dass das Bundesgericht über diese Frage gar nicht abschliessend entschieden hat, sondern lediglich im Sinne der vorhergehenden Erwägung ausgedrückt hat, dass keine offensichtliche Unverwertbarkeit vorliegt und damit die Frage im (bundesgerichtlichen) Entsiegelungsverfahren (noch) nicht zu beantworten ist.
@aj: das sehe ich auch so. Das BGer wollte zum Ausdruck bringen, dass es – rein entsiegelungsrechtlich – nicht offensichtlich war. Aber wann ist gesetzeswidrig denn eigentlich offensichtlich gesetzeswidrig? Die Frage erinnert mich an die beschränkte Kognition bei der Anwendung kantonalen Rechts, die nur dann zu beanstanden ist, wenn sie offensichtlich falsch ist. Nicht offensichtlich falsch (aber eben auch falsch) wird nicht beanstandet. Pure Semantik, die sachlich nicht begründbar ist.
@kj. Das sehe ich anders, es ist nicht reine semantik. Es kann verschiedene vertretbare lösungen geben. Zudem kann eine frage oberflächlich aufgeworfen werden, deren beantwortung aber eine eingehende prüfung und auslegung erfordern. In diesen fällen ist nicht von offensichtlichkeit auszugehen. Das dürfte Ihnen im alltag wohl auch schon begegnet sein (nach dem motto “das dürfte so sein, ganz geklärt ist das aber nicht”).
@Auslegung: falsch ist falsch. Ob es bloss falsch oder offensichtlich falsch ist, kann m.E. nicht mit sachlichen Kriterien unterschieden werden.
@kj. Es geht darum, falsches als falsch zu erkennen. Das kann offensichtlich sein oder schwieriger zu erkennen. Auf einem weissen blatt sehe ich walter auf einen blick, in einem wimmelbild wirds schwieriger, ihn zu finden.
Drei Worte: Fehlurteil des Jahres!
Ziemlich heikel der Entscheid. Es wäre sinnvoller den Hinweis auf nemo tenetur auch zu Beginn jeder Zwangsmassnahme zu machen, unabhängig von einer kognitiven Beeinträchtigung des Beschuldigten. Bei einer bestehenden Verteidigung müssten die Beamten m.E. ausserdem zu Beginn der Hausdurchsuchung einen (mindestens telefonischen) Kontakt zum Verteidiger herstellen. Eine Anwesenheit des Verteidigers erscheint mir aber nicht zwingend.
Ich überlege mir das auch immer, wenn man mich vor einer Anhaltung kontaktiert und mich fragt, ob ich dabei sein möchte (auch bei der anschliessenden HD). Bislang habe ich das meistens verneint, weil ich davon ausging, dass diese Fragen (PIN, Siegelung usw.) in der anschliessenden Einvernahme thematisiert wird, wo ich dabei bin. Wenn man mich schon vor einer Anhaltung kontaktiert, weil ein Fall von notwendiger Verteidung vorliegt, dann gehe ich davon aus, dass man nicht schon “beginnt” bevor ich dabei bin. Das hat bisher auch immer geklappt. Aufgrund dieses Entscheides muss ich das ernsthaft überdenken. Der Entscheid stört gewaltig… und widerspricht auch der Praxis, wonach Aussagen einer beschuldigten Person direkt bei der Anhaltung, ohne Rechtsbelehrung, nicht verwertbar sind. Das hatten wir gerade kürzlich wieder, bei einem Tötungsdelikt, bei welcher die beschuldigte Person angeblich bei der Anhaltung gesagt haben soll, wie sie zugestochen habe: Diese Aussage gegenüber zwei Polizeibeamten, die im Anschluss in einem Wahrnehmungsrapport wiedergegeben wurde, war gemäss Gericht nicht verwertbar, was meiner Meinung nach eigentlich richtig ist. Warum dies bei einem Pin-Code anders sein sollte, sehe ich nicht.
Warum soll alles was nicht dem Geheimnisschutz unterliegt Verfahrensrelevant sein ? Diese Art der Verfahrensführung ist ja gang und gäbe
Der erwähnte Entscheid des Tötungsdelikts würde mich interessieren… Ist dieser im Internet verfügbar?
@Nemo Tenetur Ich kann Ihnen nur zustimmen. Der Entscheid ist in der Tat sehr problematisch. Das Bundesgericht argumentierte vorliegend damit, dass der Beschuldigte “nicht zu den ihm vorgeworfenen Straftaten befragt” wurde und folglich keine Einvernahme vorliegt. Es sollte lediglich die Hausdurchsuchung erleichtert werden. Ich vermute, dass dies beim von Ihnen genannten Beispiel anders war, da hier ein unmittelbarer Bezug zur Straftat vorliegt. Das Bundesgericht könnte diesfalls so wie es vorliegend argumentiert hat, nicht argumentieren. So oder anders finde ich es bedenklich, dass anscheinend zwischen Fragen (1) zur Straftat (= Einvernahme) und (2) zur Erleichterung der Hausdurchsuchung (? Einvernahme) differenziert wird und je nachdem unterschiedliche Anforderungen an die Aufklärungspflichten gestellt werden.
@Thomas Vielleicht hilft Ihnen das Urteil vom 14. Juni 2021 des Obergerichts Zürich (SB200121) weiter, welches sich auf S. 8 ff. mit der Verwertbarkeit von Aussagen bei einer Hausdurchsuchung befasst hat.
@Thomas: Nein, ein erstinstanzliches Urteil des Regionalgerichts Bern Mittelland, welches nicht weitergezogen wurde. Die Urteile der Regionalgerichte in Bern werden nicht publiziert.