Bern und der Anklagegrundsatz

Das Obergericht BE (2. Strafkammer) bekundet weiterhin Mühe damit, Beschuldigte nach dem Sachverhalt zu beurteilen, der in der Anklageschrift umschrieben ist. Erneut muss es sich daher vom Bundesgericht (sogar in zivilrechtlich geprägter Besetzung) vorwerfen lassen, das Anklageprinzip verletzt zu haben (BGer 6B_762/2023 vom 28.12.2023):

Gemäss Anklage hat sich die Ehefrau im Gegenteil – wenn auch nicht ausreichend – gewehrt. Zudem soll sie ihren Widerwillen nicht nur betätigt, sondern auch geäussert haben, worüber sich der Beschwerdeführer mit Gewalt hinweggesetzt habe. Damit fehlt es an einer Umschreibung des objektiven Tatbestands einer Schändung im massgebenden Anklagesachverhalt. Aus der Anklage ergibt sich auch der subjektive Tatbestand einer Schändung nicht. Dafür müsste umschrieben sein, dass sich der Beschwerdeführer der Widerstandsunfähigkeit seiner Ehefrau bewusst war und dennoch sexuelle Handlungen an ihr vornahm. 

Unter den gegebenen Umständen scheidet eine Verurteilung wegen Schändung aus und der Beschwerdeführer musste damit nicht rechnen. Dies gilt umso weniger, als die Anklage auch den entsprechenden Tatbestand nicht nennt, sondern einzig denjenigen der (mehrfachen) sexuellen Nötigung aufführt. Die Verteidigung war daher nicht gehalten, sich auch zum Nichtvorliegen des Schändungstatbestands zu äussern. Insofern konnte sich der Beschwerdeführer nicht angemessen gegen diesen Vorwurf zur Wehr setzen und der Anklagegrundsatz ist verletzt (E. 1.2.1, Hervorhebungen durch mich). 

Wenn die zitierten Erwägungen des Bundesgerichts zutreffen (ich kenne weder die Anklage noch das kassierte Urteil) fragt man sich, wie Oberrichtern derartige Rechtsfehler unterlaufen können.