Berufsgeheimnis vs. kantonale Entbindungspraxis

Nach Art. 15 Abs. 2 GesG/SH können zur Verschwiegenheit verpflichtete Personen von der Schweigepflicht mit schriftlicher Bewilligung des zuständigen Departements befreit werden. Gestützt auf eine solche (angebliche) Befreiung wurde ein von einer Klinik ediertes Patientendossier entsiegelt. Streitig war. ob eine gültige schriftliche Entbindung vom Berufsgeheimnis durch das zuständige kantonale Departement (gemäss Art. 171 Abs. 2 lit. b StPO) vorlag. Das Bundesgericht verneint dies und kassiert den Entscheid (BGE 1B_545/2019 vom 14.10.2020, Publikation in der AS vorgesehen), denn es lag lediglich eine E-Mail des stv. Departementssekretärs vor. Zudem fehlte auch ein entsprechendes Entbindungsgesuch und am rechtlichen Gehör von Geheimnisträgern und Geheimnisherr.

Entgegen der Ansicht der Entsiegelungsrichterin kann die fragliche E-Mail den gesetzlich vorgeschriebenen schriftlichen Entbindungsentscheid der zuständigen Behörde nicht ersetzen. Weder entspricht die E-Mail vom 1. Juli 2019 den gesetzlichen Formanforderungen an eine Verwaltungsverfügung (oder an einen strafprozessualen Zwischenentscheid, vgl. Art. 80 Abs. 2 und Art. 110 Abs. 1-2 StPO), noch enthält sie eine gültige Unterschrift (vgl. Art. 86 StPO). Hinzu kommt, dass es auch an dem gesetzlich vorgeschriebenen Entbindungsgesuch der betroffenen Ärztinnen und Ärzten als Geheimnisträger/innen fehlt (Art. 321 Ziff. 2 StGB; § 38 Abs. 4 GesV/SH). Die E-Mail vom 1. Juli 2019 ist keine hoheitliche Antwort auf ein Entbindungsgesuch des ärztlichen Personals, sondern eine informelle Antwort auf ein Rechtsauskunftsgesuch der Staatsanwaltschaft. Darüber hinaus wurde vor der Mitteilung des Stellvertretenden Departementssekretärs weder dem ärztlichen Personal (als Geheimnisträger) noch dem Beschuldigten (als Geheimnisherr) das rechtliche Gehör gewährt; ebenso wenig enthielt die E-Mail eine Rechtsmittelbelehrung. Sie dennoch als gültigen Entbindungsentscheid im Sinne von Art. 171 Abs. 2 lit. b StPO i.V.m. Art. 321 Ziff. 2 StGB einzustufen, hält vor dem Bundesrecht nicht stand (E. 4.4).  

Das Bundesgericht hat dann noch geprüft, ob das schaffhausische Verwaltungsrecht (GesG/SH) eine Ausnahme (bzw. eine gesetzliche Entbindung) vom Arztgeheimnis begründe. Auch diese Frage war zu verneinen:

Aus Art. 321 Ziff. 3 StGB lässt sich keine Kompetenz der Kantone ableiten, die strafprozessuale Zeugnispflicht abweichend von Art. 171 Abs. 1-2 StPO zu regeln oder das Arztgeheimnis (bei schwer wiegenden Straffällen) gar vollständig abzuschaffen (Art. 49 Abs. 1 i.V.m. Art. 123 Abs. 1 BV; Urteil 1B_96/2013 vom 20. August 2013 E. 5.6). Art. 321 Ziff. 3 StGB ist gegenüber Art. 171 StPO der ältere und (betreffend strafprozessuale Zeugnis- und Editionspflichten) weniger spezifische Erlass. Art. 321 Ziff. 3 StGB wurde formuliert und in Kraft gesetzt, als noch die (dort erwähnten)  kantonalen Strafprozessgesetze galten, denen die verfassungsrechtliche Praxis und Rechtslage eine grosse Gestaltungsfreiheit zugestand. Diese wurde seither durch Art. 123 BV und Art. 171 StPO beschnitten. Massgebliche kantonale Bestimmungen “über die Zeugnispflicht” existieren seit Inkrafttreten der StPO nicht mehr (E. 4.9).  

Die weiteren Erwägungen waren dann m.E. nicht mehr entscheidend, sondern scheinen das Bisherige zu bestätigen: Das kantonale Recht darf strafbewehrtes Bundesrecht nicht aushöhlen:

Der Vorinstanz und dem Beschwerdeführer ist darin zuzustimmen, dass auch Art. 15 Abs. 2 lit. c GesG/SH nicht (per se) als gesetzliche Grundlage für eine pauschale ärztliche Auskunfts- und Editionspflicht – ohne gültige Entbindung vom Arztgeheimnis auf ärztlichen Antrag hin – interpretiert werden kann. Eine solche Rechtsanwendung würde das Arztgeheimnis aushöhlen und wäre mit den bundesrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Berufsgeheimnisse nicht vereinbar (Art. 13, Art. 49 Abs. 1 und Art. 123 Abs. 1 BV; Art. 171 Abs. 2 lit. b StPO i.V.m. 321 Ziff. 2 StGB) [E. 4.10].

Wichtig sind aber noch die Erwägungen zum Verhältnis zu den Meldepflichten, die hier aber nicht zur Anwendung kamen:

Im vorliegenden Fall geht es nicht um die Meldung einer mutmasslichen Straftat (oder anderer aussergewöhnlicher Vorkommnisse) durch das medizinische Personal der betroffenen psychiatrischen Klinik. Als die Staatsanwaltschaft das streitige Patientendossier des Psychiatriezentrums edieren liess und siegelte, hatte sie (nach eigener Darlegung) bereits konkrete Anhaltspunkte für den Verdacht der untersuchten Sexualdelikte. Von der Durchsuchung des Patientendossiers über die stationäre Behandlung (und allfälligen Zeugenbefragungen des medizinischen Personals) verspricht sich die Staatsanwaltschaft vielmehr weitere Aufschlüsse über die (bereits zuvor bekannt gewordenen) untersuchten Straftaten (E. 4.10).  

Der Fall lag fast ein Jahr beim Bundesgericht. Für das weitere Vorgehen erwägt das Bundesgericht unter Hinweis auf das Beschleunigungsgebot folgendes:

Das ZMG hat die Staatsanwaltschaft unverzüglich anzufragen, ob sie ihr Entsiegelungsgesuch zurückzieht. Falls sie am Gesuch festhält, hat das ZMG der Staatsanwaltschaft unter Beachtung des Beschleunigungsgebots (Art. 5 Abs. 1 StPO) eine Frist anzusetzen, um einen (allfälligen) rechtsgültigen Entscheid der zuständigen kantonalen Behörde betreffend Entbindung vom Arztgeheimnis (Art. 171 Abs. 2 lit. b StPO i.V.m. Art. 321 Ziff. 2 StGB) nachzureichen (E. 4.11).  

So werden Fehler auch dann reparabel, wenn die Frist für das Entsiegelungsgesuch seit über einem Jahr verstrichen ist.