Berufsregeln für die Verfahrensbeteiligten in Strafverfahren
Anwältinnen und Anwälte haben die Berufsregeln nach Art. 12 BGFA zu wahren. Dazu gehört die sorgfältige und gewissenhafte Ausübung des Berufs (lit. a). Verletzungen werden disziplinarisch geahndet (Art. 17 BGFA). Eine mögliche Disziplinarmassnahme ist das dauernde Berufsverbot. Gerichts- und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, Vorfälle zu melden, welche die Berufsregeln verletzen könnten (Art. 15 Abs. 1 BGFA). So weit so gut.
Wie sieht es aus mit den Berufsregeln der anderen Beteiligten, bspw. von Staatsanwälten oder Richtern? Gewiss, die Kantone und der Bund kennen Aufsichtsbehörden und Aufsichtsverfahren. Aber wo werden die Dienstpflichten definiert?
Ist ein Fehlentscheid eines Richters, beispielsweise aus Unkenntnis des anwendbaren Rechts, eine (fahrlässige) Dienstpflichtverletzung? Kann eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung eine (fahrlässige) Dienstpflichtverletzung darstellen? Ist die Anwendung einer verbotenen Beweiserhebungsmethode nach Art. 140 StPO eine Dienstpflichtverletzung? Oder liegt eine Dienstpflichtverletzung nur dann vor, wenn sie eine strafbare Handlung darstellt?
Es fragt sich auch, wieweit sich Richter dem Verdacht der Begünstigung aussetzen, wenn sie ihnen bekannte Straftaten wegen der kleinräumigen Verhältnisse wie z.B. im Kanton Schwyz nicht pflichtgemäss anzeigen und zur Untersuchung bringen, dafür aber Kritikern jener Straftaten Bussen von bis zu Fr. 10’000.- androhen, sollten sie diese weiterhin öffentlich thematisieren wollen.
Offenbar ist hierzu ein neuer Strafparagraph in Arbeit, Begünstigung der Vortat,
womit Hoffnung besteht, dass das Strafrecht nicht nur selektiv Anwendung findet.
Nach bald 30 Jahren Tätigkeit in der Advokatur kann man hier auf eine Vielzahl von selbst erfahrenen oder wenigstens beobachteten Fällen von sonderbarem Verständnis der Berufspflichten von “Magistraten” aller Art zurückblicken. Einer der schlimmsten ist und bleibt der (seit längeren Zeit) aus dem Amt ausgeschiedene Bundesrichter, der im Beschwerdeverfahren betreffend Rechtshilfe in Strafsachen die ausländischen Behörden auf Anfrage über die Identität des Beschwerdeführers informierte, worauf letzterer innert weniger Stunden medienwirksam in U-Haft gesetzt wurde. Den intervenierenden Schweizer Anwälten drohte der Bundesrichter mit Ordnungsbusse und Anzeige an die Aufsichtsbehörden. Sie haben gekuscht.
Fehler sind erlaubt, auch für Magistratspersonen. Der Mensch ist und bleibt fehlbar. Sowenig wie es absolute Sicherheit gibt, ist fehlerfreies Behördenhandeln möglich. Jedes Unternehmen hat heute einen Verhaltenskodex, der auch den Umgang mit Fehlverhalten adressiert. Nur die Justizbehörden sehen sich selbst hier über allem. Vielerorts gilt hier eine oft sonderbar anmutende “Omerta”. Fehlerbewältigung muss dort noch gelernt werden.
Übrigens: Die Begünstigung der Vortat ist bereits seit längerem Straftat – jedenfalls, wenn Vermögenswerte oder bewegliche Sachen involviert sind und mindestens ein sehr breit interpretierter Eventualvorsatz gegeben ist. Die Straftatbestände heissen Geldwäscherei und Hehlerei…
Richter*innen bilden die Justiz. Sie sind demokratisch gewählt. Es obliegt dem Wahlorgan, diese nach Ablauf der Amtsperiode nicht wieder zu wählen. Amtsenthebungsverfahren gibt es (soweit ich weiss) in den meisten Kantonen nicht. Und wenn es solche gibt, dann wäre ein “Fehlurteil” sicherlich kein Amtsenthebungs- oder Disziplinierungsgrund.
Was konkret ein Fehlurteil ist, entscheidet das letztinstanzliche Gericht (d.h. das Bundesgericht). Darüber hinaus gibt es wenig sinnvolle objektive Massstäbe, um zu bestimmen, was ein Fehlurteil ist. Als kantonale Instanz gegen die bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu entscheiden, ist im übrigen zulässig, zumal das Bundesgericht jederzeit seine Rechtsprechung ändern könnte (und Bundesrichter*innen im übrigen auch nur Menschen sind). Das alles relativiert den Begriff “Fehlurteil” ganz wesentlich.
Um die gestellten Fragen umzuformulieren: Begeht ein Richter, der wegen angeblichen Formalismen (“Unverwertbarkeit”) die Augen vor einem klaren Schuldbeweis verschliesst, eine Dienstpflichtverletzung? Oder ist der Richter schuld, wenn er eine verwahrte Person entlässt und diese dann wieder ein Verbrechen begeht?
Die Antwort auf all diese Fragen muss m.E. Klarerweise “nein” lauten.
@Verfassungsrechtler: Ich bin mit allem einverstanden, aber die Umformulierung der Fragen ist mir zu einfach. Ich nehme ein anderes Beispiel: Ein Richter verurteilt einen Beschuldigten. Einziges Beweismittel ist gemäss Urteil ein abgehörtes Telefonat. Für die Überwachung liegt keine Genehmigung vor, was der Richter trotz entsprechender Rügen der Verteidigung “übersieht”. Disziplinarverfahren gegen den Richter undenkbar?
Es gibt ja genügend Beispiele aus den Kantonen und dem Bund wo schweres persönliches Fehlverhalten des Richters gegenüber Mitarbeitern etc. vorgekommen sein soll. Bei gravierenden Fällen wird der Richter dann als ultima ratio vom Gesamtgericht von der Urteilsfällung ausgeschlossen, bis die Wahlperiode abgelaufen ist (bspw. Dr. Martin S. beim Bundesgericht).
Das ist aber nicht mit einem „Fehlentscheid“ vergleichbar. Ich persönlich finde, dass es nicht die Aufgabe von Disziplinarkommissionen sein kann, demokratisch gewählte Richter*innen für ihre Urteilssprüche abzustrafen. Das beschlägt die Unabhängigkeit in der Entscheidfällung.
Soweit dann die RichterInnen auch tatsächlich vom Volk oder deren VertreterInnen gewählt sind und die Richterfunktion nicht – wie in Zürich – zu einem erheblichen Teil von von der Justizverwaltung beorderten ErsatzrichterInnen über- (aber nicht immer wahr-) genommen wird.
Das ist ein schweizweiter Trend. Hat ZH wenigstens eine Grundlage in der Verfassung oder dem Gesetz?
Die Diskussion verläuft gerade um 180° gedreht in Richtung Behördenschelte. Bei dem oben kommentierten Entscheid geht es um die behördliche Meldepflicht nach Art. 15 BGFA, wenn ein Vorfall die anwaltlichen Berufsregeln verletzen könnte. Wird das seitens des StA in einem Strafverfahren gegen einen Anwalt wegen Urkundendelikten auch tatsächlich gemacht, riskiert er eine Strafuntersuchung gegen sich wegen Verleumdung, Irreführung der Rechtspflege und übler Nachrede mit dem Segen bzw. der Ermächtigung einer Anklagekammer, in welcher Berufskollegen (Anwälte) Einsitz haben…
Akut zeigt sich das Problem meines Erachtens bei den Strafbefehlen. Wie ist damit umzugehen, wenn ein Strafbefehl erlassen wird, obwohl der Sachverhalt klarerweise weder eingestanden noch anderweitig ausreichend geklärt ist? Es dürfte ja kaum zu bestreiten sein, dass dies in der Praxis durchaus vorkommt…
Eine widerrechtliche Anordnung von Zwangsmassnahmen fällt regelmässig unter Art. 312 StGB. Warum soll dies bei Strafbefehlen, wo die strafprozessualen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, anders sein?
Seitens der STAs wird auf den „Urteilsvorschlagscharakter“ des Strafbefehls verwiesen. Dies geht m.E. aber ziemlich an der Realität vorbei, wenn man sieht, selten Einsprache gegen Strafbefehle erhoben wird. Die teils in den Medien vorgetragene Begründung der STAs, dass dies die hohe Qualität der Strafbefehle zeigen soll, ist zudem etwas gar einfach… Da können durchaus andere Gründe ebenfalls kausal sein. Und schliesslich hätte der Gesetzgeber Strafbefehle ja auch nicht als Straf“befehle“ bezeichnen müssen, wenn diese eigentlich gar keine „Befehle“, sondern nur „Vorschläge“ sein sollen.
Und was ist schliesslich mit den Leitungen der STAs, welche eine StPO-widrige dulden oder allenfalls sogar vorgeben? …
Meine Erfahrung als Richter ist, dass Anzeigen nach Art. 15 Abs. 1 BGFA nur in den seltensten Ausnahmefällen gemacht werden, nämlich wenn Anwälte ihre Pflichten ganz grundlegend und mehrfach verletzen. Der Eindruck, Anwälte würden ihren Beruf stets „sorgfältig und gewissenhaft“ ausüben (Art. 12 Abs. 1 lit. a BGFA), ansonsten sie sofort disziplinarisch geahndet würden, täuscht. Aber auch hier sehe ich natürlich den Einwand von kj: Gerade dieser Umstand belegt doch die Unfähigkeit der meisten Richter: Nicht einmal ihrer Aufsichts- und Anzeigepflicht gegenüber fehlerhaft arbeitenden Anwälten kommen sie lückenlos nach und verletzen so ständig und bewusst Art. 15 Abs. 1 BGFA.
@Richter: Das ist ein bisschen billig, finden Sie nicht? Ich sprach nicht von unfähigen Richtern, sondern von Richtern, die sich bewusst oder unbewusst widerrechtlich verhalten. Meine Ausgangsfrage war ja aber, wieso nur fehlbare Anwälte zu melden sind, andere Beteiligte aber nicht.
Ad Kj
eine sehr spannende und berechtigte Frage . Ich bin gespannt auf etwaige Antworten
@kj; Fehlbare Anwälte sind zu melden, weil das BGFA dies gesetzlich vorsieht. Das BGFA gilt nun mal nur für Anwälte. Zu den Richtern: Es kann offensichtlich nicht sein, dass materielle Fehlleistungen (z.B. falsche Sachverhaltsfeststellung, fehlerhafte Rechtsanwendung) in Urteilen zu disziplinarischen Sanktionen führen können. Die richterliche Unabhängigkeit wäre nicht mehr gegeben, wenn die Richter wegen jedem Anwendungsfehler Disziplinarsanktionen gewärtigen müssten. Und überhaupt: Was heisst eigentlich Fehlleistung? Sie wissen haargenau, dass man über Rechtsanwendung geteilter Meinung sein kann. Nur weil eine Rechtsmittelinstanz ein Urteil aufhebt, heisst das noch lange nicht, dass das aufgehobene Urteil falsch ist. Ich verweise auf den Verfassungsrechtler, der das weitgehend treffend umschreibt. Und zum Schluss: Auch von Rechtsanwälten erwartet man nicht, dass sie fehlerfrei arbeiten. Sie können, solange sie Fristen wahren, so ziemlich den grössten Quatsch zusammenschreiben und nichts passiert (was ich nota bene nicht falsch finde, auch wenn man sich solche Eingaben nicht wünscht).
@Richter: Alles gut und ich kenne auch die Rechtslage und das BGFA, unter dem ich wirke. “Es kann nicht sein” ist keine Antwort. Ich suche nach einer Antwort auf die Frage, ob ein Richter, der bewusst gegen das Recht verstösst, disziplinarisch belangt werden kann. Ich bin nach über 25 Jahren Berufspraxis noch nie auf die Idee gekommen, einen Richter zu belangen, dessen Urteil vor höherer Instanz aufgehoben wurde mit der Begründung, er habe rechtsfehlerhaft entschieden. Ich will auch nicht die Unabhängigkeit der Justiz aufheben, zumal ich sogar der Meinung bin, sie sei viel zu schwach. Also noch einmal: was ist die Folge eines bewusst rechtswidrigen Verhaltens eines Richters? Wenn es strafrechtlich relevant ist, kenne ich die Folge. Ich frage nur für den Fall bewusst rechtswidrigen Verhaltens. Bisher ist die Antwort: es hat keine. Vielleicht ist das de lege lata richtig. Aber beantwortet hat die Frage noch niemand.
@ kj; Danke für Ihre Präzisierung. Das ging aus Ihren bisherigen Voten nicht in dieser Deutlichkeit hervor. Auch Richter unterstehen der Aufsicht. Man kann eine Aufsichtsanzeige machen, wie man das gegen Anwälte auch machen kann (und das wird auch gemacht). Ein bewusster Verstoss gegen das Recht könnte allenfalls geeignet sein für eine Disziplinierung. Aber, und das wollte ich schon zuvor sagen, was heisst das schon? Es müsste jedenfalls so klar und gravierend sein, dass, wie bei den Anwälten, von einer Sorgfaltswidrigkeit ausgegangen werden müsste. Was darunter zu verstehen ist, ist abstrakt schwierig näher zu fassen. Ist z.B. ein konstantes Weigern, die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu befolgen, eine solche? Immerhin kann es sein, dass die Rechtsprechung mit guten Gründen als komplett falsch erachtet wird; gebietet dann nicht die richterliche Unabhängigkeit, dass man eine als rechtswidrig erkannte Praxis nicht anwendet? Es kann auch sein, dass aufgrund der Dynamik eines Verfahrens sofort ein Entscheid gefällt werden muss, der es nicht erlaubt, alle dogmatischen Verästelungen durchzudenken. M.a.W. spielt nicht auch die Zeit eine Rolle? Ist es “bewusst falsch”, wenn aufgrund der Dringlichkeit eine womöglich (im Nachhinein) wenig überzeugende Entscheidung getroffen wird?
Ja, das sehe ich auch so: Eine Disziplinarkommission, welche vergleichbar mit der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte amtet, und einem “fehlbaren” Richter (dessen Urteil von der nächsten Instanz aufgehoben wird) Bussen auferlegt oder Verwarnungen ausspricht, gibt es meines Wissens nirgends in der Schweiz.
Wie es an anderen Orten in Europa aussieht, kann ich nicht beurteilen: Polen versucht seit längerer Zeit, die Gerichte einem von der Exekutive beeinflussten Disziplinarverfahren zu unterwerfen, wogegen sich bestimmte polnische Gerichte wehren. Erinnerlich wurde Polen dafür vor ein paar Wochen vor dem EuGH verklagt.
Wie erwähnt bedeutet das Fehlen eines förmlichen Disziplinarverfahrens (wie bei den Anwälten) aber nicht, das Schweizer Richter machen können, was sie wollen: Rechtsmittel und Aufsichtsbeschwerden sind jederzeit möglich. Nichtwiederwahl (teilweise ohne Entschädigung), parlamentarische Untersuchungskommissionen, Umteilung innerhalb des Gerichts etc. sind ferner bei schwerem Fehlverhalten möglich. Ausserdem droht einem ewige Verdammnis im Jenseits, weil man den Amtseid gebrochen hat.
Insgesamt vergleichen wir hier Äpfel mit Birnen.