Bestätigung einer Verurteilung trotz korrigierter Sachverhaltsfeststellung
Manchmal werden Urteile aus mir nicht bekannten Gründen erst Monate nach dem Urteilsdatum veröffentlicht. Ein solches Beispiel ist BGer 6B_174/2013 vom 20.06.2013, mit dem die Verurteilung einer Assistenzärztin wegen fahrlässiger Tötung bestätigt wird. Das Verfahren wurde im Strafbefehlsverfahren geführt (!) und nach Einsprache überwiesen. Als Anklage diente somit der Strafbefehl (Art. 356 Abs. 1 StPO). Darin wurde der Ärztin vorgeworfen, sie habe
als verantwortliche Assistenzärztin bei der Kontrolle der für (die Patientin) bestimmten Blutkonserven diese – entgegen der Handlungsanweisung (des Spitals) vom 28.12.2005 und den gängigen Standards – nicht mit der Blutgruppe bzw. der Blutgruppenkarte (der Patientin) verglichen und die Blutkonserven transfundiert, wodurch sie (der Patientin) Blut einer inkompatiblen Blutgruppe verabreichte, weshalb diese starb.
Diese Umschreibung reicht dem Bundesgericht:
Die Beschwerdeführerin wird unmissverständlich als verantwortliche Assistenzärztin für die Kontrolle der Blutprodukte und die Bluttransfusion bezeichnet. Es wird ihr vorgeworfen, sie habe die Blutkonserven “nicht mit der Blutgruppe bzw. der Blutgruppenkarte der Patientin verglichen”. Dabei wird auf die Handlungsanweisung Bezug genommen, welche die Kontrolle präzisiert. Weiter ergibt sich aus dem Strafbefehl der nach Auffassung der Staatsanwaltschaft erfüllte Straftatbestand unter Angabe der anwendbaren Gesetzesbestimmungen. Die Anklageschrift erfüllt die Mindestanforderungen gemäss Art. 325 StPO (E. 1.3).
So weit so gut. In der Folge – im Rahmen einer Sachverhaltsrüge der Beschwerdeführerin – begründet das Bundesgericht die Verurteilung dann aber – entgegen der Vorinstanz – wie folgt:
Zusammengefasst fehlt der Nachweis, dass die Beschwerdeführerin die Weisung oder die Handlungsanweisung kannte. Weiter muss in dubio pro reo angenommen werden, dass die Kontrolle im massgeblichen Zeitraum so vorgenommen wurde, wie das die Beschwerdeführerin schilderte. Indessen hätte die Beschwerdeführerin nach der Ansicht des Gutachtens und des Leitenden Arztes der Anästhesie in ihrer Funktion wissen oder in Erfahrung bringen müssen, dass die Blutgruppenkarte für die Kontrolle zwingend war (E. 2.4).
Das führte nun aber trotz mehrfacher Missachtung von “in dubio pro reo” nicht etwa zur Gutheissung der Beschwerde:
Die Sachverhaltsfeststellung ist im entscheidrelevanten Ergebnis, der Zuständigkeit der Beschwerdeführerin für die Letztkontrolle im Operationssaal, nicht unhaltbar, weshalb eine Aufhebung des Urteils nicht in Betracht kommt (E. 2.4).
Mir wird eher beim grammatikalischen zerpflücken der Aussagen in Erwägung 2.2.1 etwas bang, im Wissen um die einer solchen Analyse wohl nicht immer gewachsenen Protokollierungsmethoden und -Standards:
“Die Beschwerdeführerin habe bei der Befragung vom 22. Juni 2009 im Präsens zu Protokoll gegeben, die Weisung zu kennen (act. 100). Damit beziehe sich die isolierte Aussage vordergründig auf den Zeitpunkt der Befragung. Werde die im Präteritum gestellte Frage (“Kannten Sie diese Weisung bzw. Handlungsanweisung?”) sowie der Kontext dieser Frage gewürdigt, werde klar, dass sie sich auf den Kenntnisstand der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Operation am 18. Mai 2009 bezog. Weiter sei anzunehmen, dass sie unverzüglich darauf hingewiesen hätte, dass sie die Weisung im Zeitpunkt der Befragung kenne, aber zum Zeitpunkt der Operation nicht gekannt habe. ”
Es ist zu hoffen, dass hier wörtlich protokolliert wurde.
Was NIE der Fall ist, zumal die Fragen und Antworten ja noch aus dem Dialekt in die Schriftsprache übersetzt werden müssen. Meine Überzeugung, dass Befragungsprotokolle weitgehend ohne Beweiswert sind, wächst mit jeder Einvernahme, an der ich teilnehme. Das dürften mittlerweile immerhin gegen 1,000 sein. Einvernahmen sind nicht mehr als Stationen auf der Produktionsstrasse, auf der die “Wahrheit” hergestellt wird.