Beweise oder Indizien?
Das Bundesgericht kassiert einen Freispruch des Obergerichts AG auf Beschwerde der unterlegenen Privatklägerin hin wegen formeller Mängel (BGer 6B_582/2018 vom 12.07.2019).
Das Berufungsverfahren wurde schriftlich geführt, obwohl es sich – dies ursprünglich auch nach Ansicht der Vorinstanz – um eine “Aussage gegen Aussage”-Konstellation gehandelt hatte. Im Verfahren vor Bundesgericht versuchte sich das Obergericht unter Hinweis auf andere Indizien zu rechtfertigen:
Dass die Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung nunmehr entgegen den Erwägungen im angefochtenen Urteil zum Schluss kommt, es habe vorliegend keine reine “Aussage gegen Aussage”-Konstellation im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bestanden, erweist sich als unzutreffend. Die Vorinstanz räumt insoweit (implizit) selbst ein, dass die Arztberichte und Instruktionsnotizen der ehemaligen Anwältin der Beschwerdeführerin keine Beweise im Hinblick auf den Anklagesachverhalt, sondern allenfalls Indizien sind, die zur Aussagewürdigung herangezogen werden können (E. 4.1).
Gemäss Bundesgericht war die persönliche Befragung auch im vorliegenden Fall unverzichtbar:
Auch wenn den von der Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung vorgebrachten generellen Ausführungen zur Beweisabnahme im Berufungsverfahren und zur Aussagewürdigung weitgehend zuzustimmen ist, lässt sich daraus nichts für einen Verzicht auf die persönliche Befragung der Beschwerdeführerin (und des Beschwerdeführers) ableiten. Die persönliche Einvernahme der Parteien, namentlich der Beschwerdeführerin drängt sich vorliegend schon deshalb auf, um die von der Vorinstanz im angefochtenen Entscheid ausgemachten Fragezeichen bezüglich des Verhaltens der Beschwerdeführerin während und nach der angeblichen Tat sowie deren Verständnis- respektive Erklärungsschwierigkeiten bei gezielten Nachfragen zum Tatablauf näher zu beleuchten und allenfalls auszuräumen. Hierbei geht es, worauf die Vorinstanz in ihrer Stellungnahme zutreffend hinweist, in erster Linie darum, den genauen Inhalt der deponierten Aussagen abzuklären und zu erfassen, ohne den eine Würdigung der Aussagen nicht möglich ist (E. 4.2).
Bei diesem Entscheid musste man – in Kenntnis der bundesgerichtlichen Rechtsprechung – nur bis zur Sachverhaltsziffer B lesen, um zu wissen, dass das Urteil der VI kassiert werden würde.
Zuerst stimmt das mutmassliche Opfer einem schriftlichen Berufungsverfahren zu, ist vielleicht sogar froh, dass es nicht noch einmal aussagen muss, nachdem es schon bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft, dem Bezirksgericht ausgesagt hat. Und wenn dann das Urteil nicht wie gewünscht herauskommt, dann wird vor Bundesgericht gerügt, dass das Opfer doch unbedingt einzuvernehmen gewesen wäre… venire contra factum proprium?
Das Bundesgericht braucht mehr als ein Jahr für diesen Entscheid. Weil es halt so fürchterlich viel zu tun hat. Kein Wunder, wenn es solche Entscheide fällt. Und wie wird dieser Fall wohl enden? Glauben die erhabenen Richter und Gerichtsschreiber aus dem Elfenbeinturm wirklich, dass eine Aussage nach mehreren Jahren alle früheren Aussagen verdrängen und ungeschehen machen kann?
Ganz genau, die Rechtsprechung des Bundesgerichts hierzu ist verfehlt und geht viel zu weit. Die StPO sieht nun mal vor, dass das Berufungsverfahren (und auch schon das erstinstanzliche Verfahren) auf den Beweisen aus dem Vorverfahren beruht. Noch besser ist, dass das Berufungsgericht Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden heilen muss; eine Rückweisung zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung kann praktisch nicht mehr gemacht werden. Das Berufungsgericht als Ermittlungsbehörde: Abgesehen davon, dass das nicht sinnvoll ist, entspricht es auch nicht der Konzeption der StPO. Kein Wunder wird das Bundesgericht mit Beschwerden zugedeckt, wenn es solche Sachen erfindet.
@Das Berufungsgericht: (/Polemikalarm): Verzichten wir doch gleich auf die Justiz. Die Verwaltung (Staatsanwaltschaft) macht es ja gut. Die Hauptverhandlung ist eh nur noch eine Überprüfung des Vorverfahrens (Kontrollmodell!), quasi ein Rechtsmittelverfahren. Eine zweite oder dann sogar noch eine dritte Instanz sind überflüssig (Polemikalarm/). Ich wäre sogar dafür, die zweite Instanz nur noch als eine Art Kassationsgericht einzurichten. Das aber nur bei strikter Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung. Die StPO sieht es aber eben anders vor (die EMRK übrigens auch).
@kj: Die erstinstanzlichen Gerichte können ihre Verfahren glatt durchziehen und müssen keine Einvernahmen durchführen. Das muss alles das Berufungsgericht nachholen, weil es aufgrund der verfehlten Rechtsprechung des BG heilen muss und nicht zurückweisen darf. Der Instanzenzug sollte eine Pyramide darstellen; dass das Verfahren an der Basis dünn ausfällt, sich in der Mitte aufbläht und ganz oben wieder dünn wird (sehr dünn!) ist nicht sachgerecht; ganz abgesehen davon, dass es, wie erwähnt, der Konzeption der StPO widerspricht. Aber das ist ja ein Detail (ui, ebenfalls Polemikalarm!).
@Das Berufungsgericht: Alles nachvollziehbar, was Sie sagen. Aber ich glaube eben nicht, dass es der Konzeption der StPO entspricht. So verstehe ich auch Art. 2 ZP 7 EMRK
Art. 2 ZP: “Wer von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt worden ist, hat das Recht, das Urteil von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen. Die Ausübung dieses Rechts und die Gründe, aus denen es ausgeübt werden kann, richten sich nach dem Gesetz”. Ich kann daraus keinen Anspruch auf Unmittelbarkeit ableiten. Es ist nur verlangt, dass es ein zweitinstanzliches Gericht geben muss. Wie das Verfahren vor diesem Gericht ausgestaltet ist, regelt das Gesetz (die StPO im Fall der CH). Und diese sieht die Unmittelbarkeit nach ihrer Konzeption nur eingeschränkt vor (“beruht auf den Beweisen des Vorverfahrens und des erstinstanzlichen Hauptverfahrens”), unter Vorbehalt der Fortentwicklungen des Bundesgerichts natürlich (die ich kritisch sehe).
@Das Berufungsgericht: Unmittelbarkeit haben wir leider weder vor erster noch vor zweiter Instanz. Aber vielleicht sind wir uns wenigstens darin einig, dass das Berufungsgericht nicht nur Rechtsfragen, sondern auch Sachverhaltsfragen beurteilt. Das geht halt einfach nur, wenn das Berufungsverfahren nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ausgestaltet ist. Das Gesetz regelt die (eher seltenen) Ausnahmen.
Es ist schon erstaunlich, wie die Strafrechtsabteilung des Bundesgericht die oberen kantonalen Gerichte faktisch zu erstinstanzlichen Gerichten, die eigentlich alles genau gleich und nochmals machen sollen, degradiert. Und die Arbeit der Polizei und der Staatsanwaltschaften zählt schon gar nichts. Muss ja eh alles vor Gericht wiederholt werden.
@Zivilrechtler: Bloss gut sind Sie kein Strafrechtler!