Beweiswürdigung oder Beweisverwertung?
Das Obergericht ZH muss einen Fall ein drittes Mal beurteilen. Das erste Urteil wurde kassiert, weil eine Geschädigte nicht gerichtlich konfrontiert worden war (schriftliches Verfahren). Zur neuen Verhandlung erschien die Geschädigte nicht, weshalb das Obergericht freisprach. Das war aber gemäss Bundesgericht auch nicht richtig (BGer 6B_1129/2021 vom 03.10.2022):
Jedoch ergibt sich aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Unmöglichkeit einer gerichtlichen Befragung eines zuvor korrekt konfrontierten Belastungszeugen nicht zur Unverwertbarkeit der Aussagen des Belastungszeugen führt (BGE 147 IV 534 E. 2.4; 140 IV 196 E. 4.4.5; Urteil 6B_824/2016 vom 10. April 2017 E. 7.3.2, nicht publ. in: BGE 143 IV 214; je mit Hinweisen). Das Gericht hat die Aussagen lediglich besonders vorsichtig und zurückhaltend zu würdigen (BGE 140 IV 196 E. 4.4.5; Urteil 6B_824/2016 vom 10. April 2017 E. 7.3.2 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 143 IV 214). Dies steht im Einklang mit dem Zweck der unmittelbaren gerichtlichen Befragung gemäss Art. 343 Abs. 3 StPO, die dem Gericht die Beweiswürdigung erleichtern soll durch den unmittelbaren Eindruck, den es etwa durch die Mimik und die nonverbale Kommunikation vom Zeugen erhält (BGE 140 IV 196 E. 4.4.1; Urteil 6B_824/2016 vom 10. April 2017 E. 7.3.2, nicht publ. in: BGE 143 IV 214). Art. 343 Abs. 3 StPO betrifft die Beweiswürdigung und nicht die Verwertbarkeit von Beweisen. Ziel ist es, eine korrekte Beweiswürdigung sicherzustellen. Dabei bleibt es, auch wenn das Gericht die Unmöglichkeit der unmittelbaren Befragung durch sein wenig effizientes Vorgehen möglicherweise mitzuverantworten hat und bei einer früheren Vorladung des Zeugen zur Gerichtsverhandlung eine Befragung unter Umständen noch möglich gewesen wäre (Urteil 6B_824/2016 vom 10. April 2017 E. 7.3.2, nicht publ. in: BGE 143 IV 214) [E. 1.4.2].
Ist das nun richtig? Muss das Obergericht im dritten Durchgang wieder freisprechen, weil die Beweiswürdigung ohne Befragung der Geschädigten für einen Schuldspruch nicht ausreicht? Verurteilen kann es nach dem Freispruch im zweiten Durchgang ja kaum.
Erstaunlich finde ich, dass es bei der gerichtlichen Anhörung um eine Erleichterung der Beweiswürdigung gehen soll. Mit anderen Worten, auch ohne persönliche Anhörung ist die Beweisführung über die entsprechenden früheren EV möglich, einfach nur anstrengender. Das OG kann daher durchaus neu schuldig sprechen, wenn es sich diesmal anstrengt, da es im zweiten Durchgang offenbar fälschlich einen formell begründeten Freispruch gefällt hat.
Die erneute Einvernahme der Geschädigten durch das OG soll nach meinem Verständnis ermöglichen, die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen durch Mimik, Gestik etc. (und nicht bloss aufgrund der Informationen in den Akten) zu würdigen. Offenbar reichen also die blossen Akten nicht aus, um das Gericht von einem Schuldspruch zu überzeugen. Daher müsste nach meinem Verständnis (analog der Auslegung von Herrn Jeker) ohne Befragung der Geschädigten im dritten Durchlauf konsequenterweise vermutlich erneut (aber mit anderer Begründung) ein Freispruch ergehen.
An dieser Stelle sei wieder einmal gesagt, dass es aus wissenschaftlicher Sicht keine verlässlichen Anzeichen dafür gibt, dass Aussagen aufgrund von Mimik, Gestik etc. als Lüge / Wahrheit beurteilt werden könnten. Dass man die Elaboration der Glaubhaftigkeit der Aussagen darauf stützen will ist entspricht etwa dem Niveau “Küchenpsychologie” und ich empfehle dringendst entsprechende Fachliteratur zu konsultieren. Zudem sei an dieser Stelle erwähnt, dass um Glaubhaftigkeitsbeurteilungen von Aussagen bei traumatisierten Personen (was hier aufgrund der Angaben im Sachverhalt allenfalls möglich wäre) machen zu können einiges mehr als das Abbarbeiten von Kriterien gemäss einem Katalog erforderlich ist. Auch hier verweise ich auf die entsprechende aktuelle Literatur.
Zudem möchte ich anfügen, dass bei der Überlegung des Gerichts, ein Opfer eines solchen Delikts nochmals nach Jahren persönlich hören zu wollen teilweise ausser Acht gelassen wird, zu bedenken, was das zum einen mit dem Opfer machen kann und zum anderen was zwischenzeitlich geschehen ist im Leben des Opfers und der Verarbeitung der Tat, was in die Aussagen inhaltlich in Bezug auf Ausführlichkeit einfliessen kann.
Wenn ich es richtig verstehe gibt es Videoaufnahmen von Einvernahmen in diesem Falle. Nun soll sich das Gericht damit auseinandersetzen, in der Hoffnung bzw. Überzeugung, dass dieses sicherlich weiss, dass es nicht aus Mimik und Gestik etwas ableiten kann.