Bloss ungültig oder doch absolut unverwertbar?
Erneut lässt das Bundesgericht die (eigentlich längst geklärte) Frage offen, ob ein Geständnis verwertbar sei, das in Abwesenheit einer erkennbar notwendigen Verteidigung erfolgte (BGer 6B_563/2021 vom 22.12.2022, Fünferbesetzung).
In der Begründung kritisiert das Bundesgericht seinen eigenen früheren Entscheid, der die Frage ohne Diskussion (!) im Sinne der absoluten Unverwertbarkeit beantwortet hatte (vgl. BGer 6B_883/2013 vom 17. Februar 2014 E. 2.3). Eine Auseinandersetzung mit der Lehre oder der abgeschlossenen StPO-Revision, die unzweideutig die absolute Unverwertbarkeit vorsieht, findet im aktuellen Urteil wiederum nicht statt, weil die Beweiswürdigung der Vorinstanz auch ohne das Geständnis im Ergebnis nicht willkürlich gewesen sei.
Ob das Geständnis des Beschwerdeführers damit absolut unverwertbar ist (vgl. Art. 141 Abs. 1 2. Satz StPO), wie dies der französische Gesetzestext von Art. 131 Abs. 3 StPO nahelegt (“ne sont pas exploitables”), oder ob lediglich von einer relativen Unverwertbarkeit auszugehen ist (vgl. Art. 141 Abs. 2 StPO; vgl. auch E. 3.3.3 hiernach), da der deutsche und der italienische Wortlaut die Ungültigkeitsfolge vorsehen (“nur gültig”, “valido soltanto”), braucht vorliegend nicht geklärt zu werden (Frage ebenfalls offengelassen in: BGE 141 IV 289 E. 2.3 sowie in den Urteilen 1B_210/2020 vom 3. Juli 2020 E. 1.3, 6B_75/2019 vom 15. März 2019 E. 1.4 und 1B_124/2015 vom 12. August 2015 E. 2.1.2; vgl. demgegenüber Urteil 6B_883/2013 vom 17. Februar 2014 E. 2.3, wo gestützt auf den französischen Wortlaut im Ergebnis von einem Fall der Unverwertbarkeit ausgegangen wurde, ohne aber die divergierenden Gesetzestexte zu thematisieren). Denn selbst unter der Annahme der (absoluten) Unverwertbarkeit des Geständnisses ist die vorinstanzliche Beweiswürdigung im Ergebnis nicht willkürlich, wie sich aus dem Folgenden ergibt (vgl. insbesondere E. 4.4.3 hiernach). [E. 2.4.4].
Der Entscheid enthält weitere bemerkenswerte Erwägungen. So ist eine von der dazu nicht zuständigen Verfahrensleitung verfügte Rückweisung einer Anklage nach Art. 329 Abs. 2 StPO nicht nichtig, ja hat überhaupt keine Folgen:
Zwar erging die strittige Rückweisungsverfügung von der sachlich unzuständigen Behörde, da gemäss Art. 329 Abs. 2 StPO nicht die Verfahrensleitung, sondern das Gericht für die Rückweisung der Anklage zuständig ist. Dieser Mangel ist aber nicht derart schwerwiegend, als dass es angesichts der besonderen Bedeutung der Rechtssicherheit gerechtfertigt wäre, dem fraglichen Rückweisungsentscheid vom 19. Juni 2015 nach mehr als sieben Jahren jegliche Rechtswirkung abzusprechen. Angesichts der umfangreichen Kompetenzen der Verfahrensleitung gemäss Art. 62 und 329 ff. StPO, ist zudem nicht von einem offensichtlichen Mangel auszugehen. Dafür spricht auch der Umstand, dass der Fehler offenbar auch der Staatsanwaltschaft und den übrigen Parteien entgangen ist. Der rechtskundig vertretene Beschwerdeführer verhält sich sodann widersprüchlich, wenn er einerseits in der fehlenden Zuständigkeit des Kantonsgerichtspräsidenten einen offensichtlichen und schwerwiegenden Fehler erblickt und er andererseits im Rahmen der ergänzenden Beweiserhebungen seine Teilnahmerechte wahrnahm, ohne die Rechtmässigkeit der Rückweisungsverfügung in Frage zu stellen; erst anlässlich der Hauptverhandlung vom 2. Oktober 2020 vor dem Kantonsgericht machte er die Nichtigkeit der Rückweisungsverfügung wegen sachlicher Unzuständigkeit geltend (E. 1.4.2).