Brian Keller scheitert an der Willkür
Das Bundesgericht weist eine neuerliche Haftbeschwerde von Brian Keller ab (BGer 7B_188/2023 vom 24.07.2023, Fünferbesetzung). Die Vorinstanz hat die angeblich bestehende Wiederholungsgefahr bejaht, obwohl sie sich im Wesentlichen auf ein allein gestützt auf die Akten erstelltes Fokalgutachten berufen hat und obwohl das Fokalgutachten selbst nach Auffassung des Gutachters nicht belastbar ist.
Dem stimmt das Bundesgericht zu und sagt ausdrücklich, man hätte die Wiederholungsgefahr durchaus auch anders beurteilen können. Das reicht zur Gutheissung aufgrund der Willkürkognition nach ständiger und m.E. qualifiziert falscher Rechtsprechung des Bundesgerichts (s. dazu unten) allerdings nicht:
Darüber hinaus ist die Kritik des Beschwerdeführers am Fokalgutachten nicht gänzlich unberechtigt. Es fällt auf, dass der Gutachter verschiedentlich darauf hinweist, mangels Exploration keine abschliessende bzw. belastbare Einschätzung vornehmen zu können. So erkennt er etwa Hinweise für eine depressive Entwicklung mit fortschreitender Isolationshaft, vermag diese jedoch nicht klar zu erfassen, ebenso wenig, wie er beurteilen kann, ob bei den Anlasstaten eine Reaktivierung von traumatischen Inhalten als Folge dieser Haft stattgefunden hat (Fokalgutachten S. 27 und 35). Allgemein führt er unter dem Titel “Aktenauszug” zwar verschiedene Berichte bzw. Parteigutachten zusammenfassend auf, die sich mit der Isolationshaft des Beschwerdeführers befasst haben (Sachverständigengutachten im Fall A. in Übersetzung des International Rehabilitation Council for Torture Vicitims vom 25. Mai 2021, medizinisch-rechtlicher Bericht zum Istanbul-Protokoll vom 28. April 2021, gutachterliche Stellungnahme von Dr. med. E. vom 24. Mai 2021 und allgemeinärztliches Gutachten von Dr. D. vom 3. Dezember 2021), zieht diese in seine eigentliche Beurteilung aber nicht mit ein. Damit findet ein nicht unwesentlicher Aspekt, nämlich die Haftbedingungen in der JVA Pöschwies, kaum Eingang in die Prognosestellung. Im Weiteren anerkennt der Gutachter, dass sich die Situation seit dem Übertritt ins Gefängnis Zürich stabilisiert hat, will sich aber – mangels Möglichkeit zur Exploration – nicht dazu äussern, ob diese positiven Veränderungen über eine reine Anpassungsleistung hinausgehen (Fokalgutachten S. 31 und 33). Vor allem aber stellt der Gutachter dem Beschwerdeführer (sollte er nicht störungsspezifisch betreut und nicht in einen adäquaten Empfangsraum entlassen werden) eine ungünstige Prognose, wobei er einräumt, diese Angaben seien nicht von hoher Belastbarkeit. Dies begründet er wiederum mit dem fehlenden direkten Zugang zum Beschwerdeführer sowie den weitgehend unklaren situativen Rahmenbedingungen im Falle einer Entlassung (Fokalgutachten S. 36 f.). Die Risikoeinschätzung des Sachverständigen für den Fall einer Haftentlassung ist somit wenig belastbar und dementsprechend nur von bedingter Aussagekraft. Dementsprechend wäre eine anderweitige Würdigung des Fokalgutachtens und als Folge davon eine anderslautende Beurteilung der Wiederholungsgefahr durch die Vorinstanz durchaus denkbar gewesen. Geradezu unhaltbar ist es jedoch nicht, wenn die Vorinstanzen gestützt auf das Gutachten von einer ungünstigen Prognose ausgehen. Denn das Fazit des Gutachters ist insoweit klar, als eine grundlegende Änderung des 2019 erstellten Risikoprofils nicht anzunehmen sei. Die Gesamtbeurteilung hinsichtlich Gewaltdelikten gegenüber Dritten im Falle einer sofort erfolgenden Entlassung falle insbesondere mittelfristig sehr ungünstig aus und es müsse von einem weiterhin hoch belasteten strukturellen Risikoprofil ausgegangen werden (Fokalgutachten S. 31 und 37). Nebst der festgestellten psychischen Störung berücksichtigt der Gutachter dabei namentlich auch die soziale Kompetenz, die bisherige Kriminalitätsentwicklung, die Therapiebereitschaft sowie das stereotype Konfliktverhalten und er hält fest, dass der Beschwerdeführer in den letzten Jahren nicht hinreichend protektive Faktoren habe aufbauen können. Er führt sodann vier seit dem Eintritt ins Bezirksgefängnis Zürich erlassene Disziplinarstrafen ins Feld, welche sich seiner Ansicht nach ungünstig auf die Rückfallwahrscheinlichkeit auswirken würden. Vor diesem Hintergrund ist die vorinstanzliche Beurteilung der Rückfallprognose vertretbar. Dabei brauchte die Vorinstanz die befürchtete erneute Tatbegehung entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers örtlich und zeitlich nicht weiter einzugrenzen. Zum einen ist eine derartige Konkretisierung bei Legalprognosen generell schwierig, zum andern scheint das Rückfallrisiko im Fall des Beschwerdeführers nach gutachterlicher Einschätzung gerade auch in seiner Unberechenbarkeit begründet zu sein (E. 10.4.4).
Das ist u.a. aus folgendem Grund falsch: Wenn sowohl die eine wie auch die andere Lösung vertretbar sind, dann sind beide willkürlich. Wenn beide willkürlich sind, kann man viel, aber man kann sich sicher nicht “willkürfrei” für die Variante entscheiden, welche die Grundrechte einschränkt. Wer widerlegt dieses banale Argument?
Nach meinem Verständnis hält das Bundesgericht den vorinstanzlichen Entscheid für vertretbar (d.h. für innerhalb des zulässigen gerichtlichen Ermessens). Ob dieser Befund des Bundesgerichts seinerseits willkürlich oder aber gerade noch vertretbar ist, das wäre die spannende Frage… Irgendwie tut mir nebst Brian jede Gerichtsperson leid, die sich mit diesem Fall auseinandersetzen muss. Das Justizsystem hat hier über Jahre ein grosses Schlamassel angerichtet und scheint schon lange unfähig, seine Funktion zu erfüllen.
Nein. Willkür heisst, dass eine variante gewählt wird, die völlig ausserhalb der vertretbaren varianten steht. Weil diese variante ausserhalb jeder nachvollziehbaren, eben vertretbaren, spannbreite liegt, wurde sie aus sachfremden, irgendwo auch zufälligen gründen gewählt und ist eben willkürlich. Aus zwei vertretbaren varianten zu wählen kann nicht willkürlich sein. Das folgt aus dem begriff der willkür.
Das Argument ist leicht widerlegt. Die Prämisse ist falsch. Nur weil zwei Lösungen vertretbar erscheinen, sind nicht beide willkürlich. Willkürlich wären die Lösungen, wenn sie geradezu unhaltbar wären. Das scheint hier nicht der Fall zu sein.
Da ich denn Fall nur aus den Medien kenne, kann ich das nicht weiter beurteilen.
@Thomas Lieven und @Will Kür: Stimmt wohl, man kann meine These über die Begriffsdefinition widerlegen. Oder ist es vielleicht doch nicht so einfach? Wenn beide Varianten vertretbar sind, also nicht unvertretbar i.S.d. bundesgerichtlichen Definition für Willkür, dann ist doch aber der Entscheid für eine der beiden Varianten willkürlich, v.a. wenn der Entscheid grundrechtsbeschränkend wirkt.
@kj. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann meinen Sie, dass dem entscheid zwischen zwei vertretbaren varianten etwas zufälliges anhaftet. Man konnte x entscheiden, hätte aber (vertretbarerweise) auch y entscheiden können. Dass man nun x entschieden hat, ist insofern keineswegs zwingend im sinne von alleine möglich und klar vorhersehbar. Soweit Sie das beschreiben möchten, kein problem, das verstehe ich. Aber das ist keine willkür im rechtssinne. Denn eine vertretbare variante ist immer noch eine, die man nachvollziehen kann und daher auch noch im rahmen des erwartbaren liegt. Eine gewisse vorhersehbarkeit ist also doch noch gegeben. Der willkürbegriff will doch etwas anderes: Etwas ein bisschen anders sehen, da und dort noch ein bisschen mäkeln und stänkern, können wir doch alle. Der willkürbegriff ist dazu da, dem ein ende zu bereiten, überhaupt zu einem ende zu kommen. Denn dazu ist das recht und die justiz (auch) da: zu einem (end)entscheid zu kommen und damit rechtssicherheit zu schaffen.
Das Bundesgericht enthält sich der Stimme. So kann man natürlich auch richten. Nur ist dies eines höchsten staatlichen Gerichts unwürdig.