Bundesgericht c. EGMR
Zu einem Thema, das hier schon mehrfach aufgegriffen wurde (vgl. meine früheren Beiträge hier, hier und hier), ist ein wärmstens zur Lektüre empfohlener Beitrag erschienen:
Ackermann/Caroni/Vetterli: Anonyme Zeugenaussagen: Bundesgericht contra EGMR, AJP 9/2007, 1071 ff.
Darin setzen sich die Autoren kritisch mit der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 132 I 127 und 133 I 33) auseinander und gewähren der zur Zeit in Strassburg hängigen Beschwerde wertvolle Schützenhilfe:
Diese Entscheide sind in zwei Punkten zu kritisieren. Zum einen dürfte eine Anhörung unter vollständiger optischer und teilweise akustischer Abschirmung nicht EMRK-konform sein. Zum andern ist die Praxis insofern zu bemängeln, als hier offenbar davon ausgegangen wird, dass der Richter oder die Richterin die Verteidigerfunktion übernehmen soll. Es geht mithin um Richterkompensation für geschwächte Verteidigungsposition. Als eigenständiges Prozesssubjekt muss der Beschuldigte jedoch seine Rechte selber wahrnehmen können und muss nicht darauf vertrauen, dass das Gericht dies für ihn tut. Denkt man den Gedanken zu Ende, führt dies zur Abschaffung der Verteidigungsrechte und erinnert an den Inquisitionsprozess: Ein Pflichtverteidiger wäre beispielsweise nicht mehr notwendig und auch das Akteneinsichtsrecht müsste nicht gewährt werden; diese Aufgaben könnten dem Gericht übertragen werden. Es sollte jedoch selbstverständlich sein, dass ein faires Verfahren nur gewährleistet ist, wenn der Angeklagte sich unabhängig von den Justizorganen verteidigen kann. Er muss nicht darauf hoffen, dass der Staat, der ihn verurteilen will, gleichzeitig auch seine Rechte schützen wird. Vor dem Hintergrund der EGMR-Rechtsprechung zum Fair Trial kann eine Überprüfung der Identität des Zeugen und eine sorgfältige Würdigung der Beweise durch das urteilende Gericht somit keine genügende Kompensationsmassnahme darstellen.