Bundesgericht gegen Geheimjustiz

In einem zur BGE-Publikation vorgesehenen Urteil (1C_302/2007 vom 02.04.2008) schützt das Bundesgericht ein von den Vorinstanzen abgewiesenes Akteneinsichtsgesuch eines Tierschutzvereins, der

Einsicht in die in den letzten fünf Jahren vom Bezirksamt Arbon erlassenen Strafentscheide, inklusive Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen, betreffend X. bzw. Y.

beantragt hatte. Die Vorinstanzen hatten argumentiert, bei Einstellungs- und Nichtanhandnahmeverfügungen sei eine Einsichtnahme durch Dritte (auch durch Anzeigeerstatter) zum Vornherein ausgeschlossen, da solche Verfügungen keine oder nur eine beschränkte materielle Rechtskraft nach sich zögen. Dies erscheint dem Bundesgericht als zu formalistisch und trage

weder dem rechtsstaatlichen Öffentlichkeitsgrundsatz ausreichend Rechnung, noch den individuellen Grundrechten von Privaten mit schutzwürdigen Informationsinteressen (E. 6).
Das Bundesgericht setzt sich für mehr Transparenz und gegen „Geheimjustiz“ ein:
In begründeten Fällen kann die Öffentlichkeit und können interessierte Private durchaus ein legitimes Interesse an der Klärung der Frage haben, weshalb es zu nichtgerichtlichen Verfahrenserledigungen ohne Straffolgen durch Sach- und Prozessentscheide kommt. Ein solches Informationsbedürfnis kann sich insbesondere bei systematischen bzw. auffällig häufigen Verfahrenserledigungen dieser Art durch Ermittlungs- und Untersuchungsbehörden bzw. Staatsanwaltschaften aufdrängen, gerade in Bereichen, die auf ein besonderes Interesse der Öffentlichkeit stossen. Bei nicht verfahrensbeteiligten Dritten erscheint es allerdings geboten, ein schutzwürdiges Informationsinteresse zu verlangen (vgl. BGE 124 IV 234 E. 3d S. 239 f.). Ein solches Interesse ist ausserdem (im Lichte des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes) gegen allfällige besondere Geheimhaltungsinteressen der Justizbehörden oder von mitbetroffenen Dritten abzuwägen (vgl. BGE 133 I 106 E. 8.1 S. 107 f.). Einsichtsgesuche dürfen insbesondere das gute Funktionieren der Strafjustiz nicht gefährden und finden eine Schranke auch am Rechtsmissbrauchsverbot. Bei entgegenstehenden privaten oder öffentlichen Interessen ist allerdings zu prüfen, ob diesen durch Kürzung oder Anonymisierung ausreichend Rechnung getragen werden kann (vgl. BGE 124 IV 234 E. 3c S. 239). Jegliche Information aus diesem Bereich der Justiztätigkeit zum Vornherein völlig auszuschliessen, hiesse demgegenüber, rechtsstaatlich unzulässige Reservate möglicher behördlicher Willkür oder intransparenter „Geheimjustiz“ zu öffnen (E. 6.3).
Ganz kurz setzt sich das Bundesgericht auch mit einer zurückhaltenderen Auffassung auseinander, die immerhin von einem amtierenden Bundesrichter vertreten wird:
Zwar wird in der Lehre teilweise die Ansicht vertreten, der Öffentlichkeitsgrundsatz beschränke sich in der Regel auf materielle Straferkenntnisse bzw. Strafverfügungen (vgl. Hans Wiprächtiger, Kontrolle der Strafjustiz durch Medien und Öffentlichkeit – eine Illusion? Medialex 2004 Nr. 1 S. 38 ff., 44). Eine allzu rigide formale Unterscheidung trüge jedoch der dargelegten rechtsstaatlichen Funktion des Öffentlichkeitsprinzips nicht ausreichend Rechnung. Ausserdem übersähe sie, dass in gewissen Fällen (nämlich soweit darin die Tatverantwortung des Beanzeigten verneint wird) auch Einstellungsverfügungen den strafprozessualen Sachentscheiden zuzurechnen sind (E. 6.4).
Anzumerken sind vielleicht folgende Überlegungen:
  1. Bei der nichtgerichtlichen Verfahrenserledigung darf eigentlich nicht von „Geheimjustiz“ gesprochen werden, denn mit Justiz hat das Schaffen der Strafverfolgungsbehörden nichts zu tun. Strafverfolgung ist geradezu klassisches Verwaltungshandeln.
  2. Das Bundesgericht betont, dass gerade in Bereichen, die auf ein besonderes Interesse der Öffentlichkeit stossen, ein erhöhtes Informationsinteresse bestehe. Dieses Argument ist nicht schlüssig. Die Gefahr der Bildung rechtsstaatlicher Reservate besteht in erster LInie in Fällen, die von der Öffentlichkeit kaum oder nicht wahrgenommen werden.
  3. Auffallend ist, dass der Persönlichkeits- und Datenschutz der Angezeigten, der Beschuldigten und auch der Opfer, die möglicherweise nichts mehr fürchten als die Öffentlichkeit, kaum erwähnt wird.