Bundesgericht verletzt auch Art. 5 EMRK
Gestern hat der EGMR eine zweite Beschwerde gegen die Schweiz gutgeheissen, diesmal zu einem anderen Steckenpferd der Schweiz, nämlich zur exzessiven Sicherheitshaft (EGMR, 06.10.2020, I.S. c. Suisse, Requête no 60202/15). Beim EMRK-widrigen Bundesgerichtsentscheid handelt es sich um BGer 1B_171/2015 vom 27.05.2015, den ich hier erwähnt hatte. Auch dieser Entscheid des EGMR erging einstimmig. Zur Haft nach erstinstanzlichem Freispruch, verweist der EGMR auf seine Rechtsprechung seit 1968:
42. Même s’il est vrai que le texte de l’article 5 § 1 c) de la Convention ne comporte aucune limitation de la détention provisoire au premier degré de juridiction, la Cour a néanmoins eu l’occasion (voir paragraphe 42 ci?dessus) de clarifier cette question déjà en 1968 dans le cadre de l’affaire Wemhoff, précitée, puis de confirmer sa position par plusieurs arrêts de Grande Chambre et de chambre : la détention au titre de l’article 5 § 1 c) de la Convention prend fin avec l’acquittement de l’intéressé, même par un tribunal de première instance (Hervorhebungen durch mich).
Was ist von diesem EGMR-Entscheid zu halten? Ist er nicht zu pauschal? Es kann doch sein, dass ein Freispruch mal offensichtlich unrichtig ist (z.B. wenn Richter ganz klar bestochen wurde – auch wenn das in CH wohl selten passiert)… Soll man dann den Beschuldigten wirklich freilassen trotz Kollusions-/Fluchtgefahr?
Bin gespannt auf Ihre Gedanken @kj
@Neugieriger Leser: Der Entscheid des EGMR schliesst Haft nach erstinstanzlichem Freispruch ja nicht absolut aus. Offensichtliche Fehlurteile gibt es auch durch nicht bestochene Richter. Offensichtlich fehlerhafte Freisprüche sind angesichts der in dubio-Regel ohnehin schwer vorstellbar. Wenn ein Richter zweifelt, dann zweifelt er und dann muss er freisprechen. Kollusionsgefahr halte ich für einen vorgeschobenen Haftgrund. Er steht in keinem Verhältnis zur Beschränkung der persönlichen Freiheit. Es gibt m.W. kein Land, das der Kollusionsgefahr derart grosse Bedeutung gibt wie die Schweiz. Dagegen steht die Erfahrung. In der Praxis spielt sie praktisch keine Rolle. Kollusionsversuche fliegen in der Regel auf, womit die Verurteilung nur wahrscheinlicher wird. Über Fluchtgefahr kann man streiten. Aber auch sie spielt in der Praxis je länger je weniger eine Rolle. Wo will man den heute noch untertauchen? Bleibt die Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr, die aber ihrer Natur nach nicht strafprozessual, sondern präventiv sind.
Im berufungsverfahren fällt das berufungsgericht ein neues urteil, welches das erstinstanzliche ersetzt. D. H. Nach einer berufung der staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes urteil kann dennoch ein schuldspruch erfolgen. Logischerweise muss dann doch auch im berufunsverfahren ein tatverdacht bestehen, trotz erstinstanzlichem freispruch. Insofern sollte die strafprozessuale haft (was den tatverdacht betrifft) auch dann noch möglich sein oder sehe ich das so falsch? Natürlich wäre ein freisprechendes erstinstanzliches urteil ein gewichtiges indiz, aber eben nicht mehr…
@Tatverdacht: Das erstinstanzliche Urteil hat erhebliche Bedeutung auch für das Berufungsverfahren. Daran ändert nichts, dass theoretisch umfassende Kognition besteht (was in einzelnen Kantonen bis heute nicht begriffen/akzeptert wird). Wenn der Tatrichter zum Freispruch kommt, fällt es schwer, einen “dringenden Verdacht” noch annehmen zu können, zumal der Haftrichter sich ja weit weniger tief mit der Sache befassen kann als es der Tatrichter in öffentlicher Verhandlung musste. Denkbar ist prozessuale Haft nach erstinstanzlichem Freispruch deshalb eigentlich nur noch in sehr seltenen Ausnahmesituationen, die der EGMR ja aber nicht ausschliesst.
Ich denke, der EGMR versteht vielleicht nicht genau, was eine zweite Instanz nach Schweizer Strafprozessrecht bedeutet: Nämlich die komplette Wiederholung des erstinstanzlichen Prozesses mit allen Beeinflussungsmöglichkeiten.
Das EGMR-Urteil würde ich effektiv begrüssen, wenn bei uns das erstinstanzliche Urteil auch von überragender Bedeutung wäre, bspw. wenn die Kognition der zweiten Instanz in einem rein schriftlichen Revisionsprozess auf Willkür und Rechtsfehler eingeschränkt wäre und das Bundesgericht in einem certoriari-system (wie in der Rechtshilfe) nur noch diejenigen Rechtsfragen beurteilt, welche von wesentlicher Bedeutung sind.
Ich hoffe, der Bund begreift mit diesem Urteil endlich, wie wichtig eine Totalrevision des strafprozessualen Instanzenzugs wäre, mit einer Stärkung der erstinstanzlichen Gerichte. Alles andere führt nur zu einem aufgeblasenen Justiz- und Anwaltsapparat und zu Verfahren, die auf den Schultern der Parteien ewig dauern und wo bis zum Ende kolludiert werden kann.
@Verfassungsrechtler: Ich denke, der EGMR versteht das sehr wohl. Falls nicht, sitzt da ja noch die CH-Richterin, die sicher viel besser ausgebildet und viel klüger ist als all die Pseudorichter aus all den Entwicklungsländern, die keine Universitäten und nicht wissen, wie rechtsstaatliche Verfahren abzulaufen haben. Und zudem ist das CH-Berufungsverfahren der EMRK ja auch nicht vollkommen fremd und wurde auch nicht in der Schweiz erfunden (vgl. zB Art. 2 EMRK ZP 7).