Bundesgericht zerzaust den Schuldspruch einer Lehrerin
Vor vier Jahren ist ein Schüler beim Schwimmunterricht im Kanton Aargau ertrunken. Die verantwortliche Lehrerin wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, gemäss Bundesgericht jedoch in mehrfacher Verletzung des Anklageprinzips, der Begründungspflicht, der Unschuldsvermutung und einiger anderer Fehler (BGer 6B_941/2010 vom 09.06.2011; Fünferbesetzung).
Dem Urteil ist zu entnehmen, dass aus der Anklageschrift im Einzelnen hervozugehen hat, worin denn eigentlich die Sorgfaltspflichtverletzung liegt:
Es ist davon auszugehen, dass das Opfer sich in einer ersten Phase völlig unauffällig verhielt und in einer späteren Phase mit dem Kopf nach unten regungslos auf dem Wasser lag. Was zwischen diesen beiden Phasen allenfalls geschah, ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil nicht. Die Annahme der Vorinstanz, das Opfer habe sich, bevor es mit dem Kopf nach unten regungslos auf dem Wasser lag, “besonders und deshalb auffällig” respektive “merkwürdig” verhalten, findet in der Anklageschrift keine Grundlage. Der angefochtene Entscheid verstösst insoweit gegen den Anklagegrundsatz (E. 3.2.3).
Dass die Vorinstanz mit solchen Feststellungen (“besonders und deshalb auffällig”, “merkwürdig”) auch ihrer Begründungspflicht nicht nachkommen konnte, liegt auf der Hand:
[Die Vorinstanz] verletzt zudem ihre Begründungspflicht, da sie weder erläutert, worin dieses Verhalten des Opfers sich konkret manifestiert und wie lange es angedauert habe, noch sich mit den von der Beschwerdeführerin angerufenen Beweismitteln auseinandersetzt, die eher gegen ein auffälliges Verhalten des Opfers zu sprechen scheinen. Die Beschwerde ist deshalb begründet, soweit sie sich gegen die Annahmen der Vorinstanz betreffend den konkreten Ertrinkungsvorgang richtet (E. 3.5).
Zu allem Überfluss wendet die Vorinstanz auch noch in dubio pro reo falsch an, indem sie der Lehrerin die Beweislast für ihren genauen Standort auferlegt:
Indem die Vorinstanz der Beschwerdeführerin entgegenhält, dass sich für deren Darstellung, sie sei nicht auf der ersten beziehungsweise unteren, sondern auf der zweiten respektive oberen Treppenstufe gesessen, den Akten nichts entnehmen lasse, auferlegt sie der Beschwerdeführerin in unzulässiger Weise die Beweislast, wodurch sie die Maxime “in dubio pro reo” als Beweislastregel verletzt (E. 4.2.1).
Im Weiteren erkennt das Bundesgericht eine weitere Verletzung des Anklageprinzips. Erneut wurde der Lehrerin ein Verhalten zum Vorwurf gemacht, das in der Anklageschrift nicht enthalten ist:
Soweit die Vorinstanz in ihren Erwägungen zum Kausalzusammenhang der Beschwerdeführerin vorwirft, dass sich diese statt an der Stirnseite zum Zwecke einer besseren Übersicht an einer Längsseite des Beckens hätte aufhalten sollen, verletzt sie den Anklagegrundsatz, da ein solcher Vorwurf in der Anklageschrift nicht erhoben wird (E. 4.2.2).
In den folgenden Erwägungen stellt das Bundesgericht etliche weitere gravierende Mängel des Urteils und eine dritte Verletzung des Anklagegrundsatzes fest. Ich verzichte auf weitere Zitate.
Wer das Urteil des Bundesgerichts liest stellt sich zwangsläufig die Frage, wie ein solches Urteil der Vorinstanz überhaupt möglich war. Aufgrund der zahlreichen Verletzungen des Anklageprinzips kann sich ein argwöhnischer Beobachter etwa folgende Varianten vorstellen:
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1. Das Urteil stand von Anfang an fest. Eine technisch gute Urteilsbegründung (die hier misslungen ist) kann bekanntlich fast jedes Ergebnis rechtfertigen.
2. Die Richter erkannten Sorgfaltspflichtverletzungen der Lehrerin und wollten sie daher nicht freisprechen, nur weil die Anklageschrift ungenügend war.
3. Die Richter hatten nicht den Mut, den Eltern des Opfers einen Freispruch zuzumuten.
4. …