“Chasing Cancellara” und das verwirklichte Restrisiko

Im Rahmen eines Radrennens in Solothurn kam es im Jahr 2018 zu einem Unfall zwischen einem geistig beeinträchtigten Passanten und einem Rennfahrer, der mit Ersterem kollidierte und sich beim Sturz schwer verletzte (vgl, dazu den Bericht in der Solothurner Zeitung erschienenen Bericht). Das Strafverfahren gegen den Passanten, der sich durch eine Lücke in der Absperrung auf die Rennstrecke begab, ist offenbar noch nicht erledigt (Einsprache gegen Strafbefehl). Ein weiteres Strafverfahren gegen unbekannte Täterschaft stellte die Staatsanwaltschaft Solothurn ein. Dagegen wehrte sich der schwer verletzte Rennfahrer erfolglos bis vor Bundesgericht (BGer 6B_516/2021 vom 20.12.2022, Fünferbesetzung).

Der Entscheid ist ein gutes Beispiel für völlig übertriebene Anonymisierung, die dann aber nicht vollständig ist und dadurch die anonymisierte Stadt Solothurn verrät. Er ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Art der Anonymisierung die Lesbarkeit des Entscheids unnötig erschwert. Und in der Sache überzeugt er mich auch nicht (Hervorhebungen durch mich):

2.5.3. Dass die Auflagen der Verfügung der Sicherheits- und Verkehrspolizei der Stadt U. vom 6. April 2018 nicht eingehalten worden seien, begründet der Beschwerdeführer namentlich damit, dass F. und I. der Stadtpolizei Solothurn dies nachträglich so verstanden haben wollen. Die Vorinstanz berücksichtigt die Funktion von F. sehr wohl, allerdings auch das massgebliche Faktum, dass er sich explizit nachträglich in diesem Sinn geäussert hat. Die entsprechende Frage in der Einvernahme lautete: “Was sagen Sie im Nachhinein als Chef Sicherheit und Verkehrspolizei der Stadt U. zu diesen Umständen [dass D. Streckenposten war und einen Bereich von 4 Metern abdecken sollte]?” Gleiches gilt für die Aussage von I. auf die identische Frage. Beide Aussagen – soweit diese nicht ohnehin lediglich der persönlichen Einschätzung von F. und I. entsprechen und nicht jener der verfügenden Behörde – handelt es sich um nachträgliche bzw. Ex-post-Beurteilungen und damit nicht um eine Einschätzung aus der für die Beantwortung der vorliegend relevanten Frage einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Veranstalters heranzuziehende Ex-ante-Perspektive (vgl. BGE 140 II 7 E. 3.4; 135 IV 66 E. 2.2; Urteile 6B_1091/2016 vom 18. Mai 2017 E. 3.2.1; 6B_1341/2015 vom 25. Februar 2016 E. 4.3.2; vgl. ferner TOMMASO CAPRARA, Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei der Organisation und Durchführung von Grossveranstaltungen, 2020, S. 265 i.V.m. S. 104 ff.).  

Soweit mit der Behauptung, dass im vorinstanzlichen Beschluss einzig die Aussagen derjenigen Personen Berücksichtigung fänden, die “keinerlei Erfahrungen mit Sicherheitsfragen im Strassenverkehr” aufwiesen, eine einseitig-willkürliche Beweiswürdigung durch die Vorinstanz unterstellt werden soll, ist der Beschwerdeführer nicht zu hören. Vielmehr überzeugt, dass die Vorinstanz für die Feststellung der massgeblichen Unfallumstände hauptsächlich auf die Aussagen jener Zeugen abstellt, die sich im Unfallzeitpunkt in unmittelbarer Nähe des Unfallortes und von D. befunden haben. Die Vorinstanz zieht aus den Aussagen dieser Zeugen – und weiteren Beweismitteln, namentlich den Aussagen von B. – willkürfrei folgenden Schluss: Das vom Veranstalter vorgesehene Sicherheitskonzept kann ein Verhalten, wie es B. zur Last gelegt wird, das heisst wenn ein Passant sich den Signalisationen bzw. Anweisungen eines Streckenpostens widersetzt, nicht verhindern. Der Beschwerdeführer scheint diesbezüglich in grundsätzlicher Weise zu verkennen, dass die Vorinstanz nicht an die rechtliche Einschätzung von Zeugen gebunden ist. Dass diese teilweise – und nicht zuletzt wohl aufgrund ihrer eingeschränkten Kenntnisse der Gesamtumstände – dem Veranstalter eine Sorgfaltspflichtverletzung, bzw. deren Äquivalent in der Laiensphäre, unterstellen, ist für die rechtliche Würdigung der (u.a. aufgrund der angeführten Zeugenaussagen erlangten) tatsächlichen Feststellungen unerheblich.  

2.5.4. Der Beschwerdeführer vermag nicht aufzuzeigen, dass die Auflagen der Verfügung der Sicherheits- und Verkehrspolizei der Stadt U. vom 6. April 2018 – an welche der Veranstalter in aller Regel gebunden ist (vgl. CAPRARA, a.a.O., S. 161 ff. und S. 204 ff.) – nicht eingehalten worden wären. Dies ist, wie die Vorinstanz zutreffend erkennt, auch nicht ersichtlich. Das Sicherheitskonzept dient der Gefahrenabwendung und kann von vornherein keine vollständige Gefahrenfreiheit garantieren, sondern stets nur die Gefahren auf ein erträgliches Mass reduzieren (vgl. Urteile 6B_261/2018 vom 28. Januar 2019 E. 5.1; 6B_1411/2017 vom 23. Mai 2018 E. 2.1; 6B_1332/2016 vom 27. Juli 2017 E. 4.3; je mit Hinweisen). Bei der Durchführung einer Grossveranstaltung wie dem vorliegend zu beurteilenden Rennen “C. ” verbleiben stets unvermeidbare Restrisiken. Zu solchen zählen namentlich Unfälle, deliktische Handlungen, Fehlverhalten von Einzelpersonen, Leichtsinn von Besuchern, übermässiger Alkohol- oder Drogenkonsum sowie Nichtbefolgung von Anweisungen und Verboten (vgl. CAPRARA, a.a.O., S. 66 ff.). Vorliegend handelt es sich um die Verwirklichung eines solchen Restrisikos. Der Veranstalter durfte darauf vertrauen, und das Sicherheitskonzept entsprechend ausgestalten, dass sich Passanten an die akustischen und optischen Signalisierungen und Anweisungen der Streckenposten halten. Selbst wenn vom Veranstalter noch umfassendere Schutzmassnahmen ergriffen worden wären, man denke etwa an einen durchgehenden mannshohen Zaun entlang der Rennstrecke (was in casu der polizeilichen Auflage widersprochen hätte, die Durchgänge für Passanten forderte), hätte die Realisierung eines Restrisikos in Form eines Vorstosses eines Menschen auf die Rennstrecke weiterbestanden, etwa zufolge Übersteigens des Zauns durch einen betrunkenen Passanten. Eine Sorgfaltspflichtverletzung durch den Veranstalter bzw. durch für diese handelnden Personen ist nicht ersichtlich.  

Der Unfall war in der vorliegenden Art auch deshalb möglich, weil die Stadtpolizei Solothurn den Veranstaltern die Auflage machte, Durchgänge für Passanten zu schaffen. Daraus schliesse ich, dass das Verfahren eher nicht hätte eingestellt werden dürfen. Solche Überlegungen machte sich wohl auch mindestens ein Teil des Spruchkörpers in Lausanne.