COVID-19 Strafrecht
Alles klar? Hier eine Frage, die man sich stellen könnte: Woher nimmt der Bundesrat eigentlich die Legitimation, eine Strafbestimmung mit Freiheitsstrafe zu schaffen?
Aktuelles zum Straf- und Strafprozessrecht
Alles klar? Hier eine Frage, die man sich stellen könnte: Woher nimmt der Bundesrat eigentlich die Legitimation, eine Strafbestimmung mit Freiheitsstrafe zu schaffen?
Allenfalls ist Art. 82 Abs. 1 lit. d EpG hinreichende Grundlage. Dann ist die Strafnorm der Verordnung aber kein selbständiger Tatbestand.
Art. 123 BV -> Sache des Bundes -> Art. 182 Abs. 1 BV -> Art. 185 Abs. 3 BV.
Fraglich ist eher, weshalb sich die Verordnung vom 13. März 2020 auf Art. 185 Abs. 3 BV stützt (sowie Art. 6 Abs. 2 EpG etc., was ja m.E. mit Verweisung auf Art. 185 Abs. 3 BV eigentlich völlig überflüssig ist?) und die Verordnung vom 17. März 2020 sich “nur noch” auf Art. 7 EpG stützt?! Damit könnte m.E. eben gerade keine Strafbestimmung in einer Verordnung erlassen werden. Wäre Art. 7 EpG dem Art. 185 Abs. 3 BV gleichgestellt (oder was auch immer der Bundesrat sich hier zusammenbastelt), wäre er ja schliesslich überflüssig (und widerspricht m.E. seinem eigentlichen Sinn von “notwendigen Massnahmen” gemäss dem EpG)?
Für mich ist auch unklar, ob es sich bei diesem Mix der angeblichen Gesetzesgrundlagen um eine selbständige oder unselbständige Verordnung handelt.
Gemäss dem Rubrum der Verordnung stützt sie die Verbote und Sanktionen auf Art. 7 EPG. Also auf Notrecht.
Aber — und das wollten sie vermutlich fragen — ist eine Freiheitsstrafe in einer Verordnung gemäss Art. 1 STGB zulässig, wonach es keine Strafe ohne GESETZ geben darf?
Hier gibt es BGE 123 IV 29,E. 3. und 4, wo sich das Bundesgericht im Zusammenhang mit der Jugo-Waffen-Verordnung darüber Gedanken macht und explizit bejaht, dass im Rahmen von berechtigtem Notrecht sogar Freiheitsstrafen als Sanktion für die Widerhandlung gegen Notverordnungen der Exekutive zulässig sind.
@Verfassungsrechtler: Genau, die unsägliche “Jugo-Waffen-Verordnung” ist ein anderes Beispiel, das ich nicht mehr im Kopf hatte.
Das habe ich mich auch gefragt. Eine Strafe wäre wohl nicht durchsetzbar, da sie gegen Art. 1 StGB verstiesse.
Strassburg wird uns wohl wieder die Leviten lesen müssen.
Was meinen die fachkundigen Lesenden zu folgender Argumentation?
Das Notrecht des EpG geht dem generellen Notrecht der Art. 185 Abs. 2 BV als lex specialis vor. Dem Bundesrat ist es demnach nicht möglich, sich im Anwendungsbereich des EpG direkt auf das Notrecht der BV zu stützen.
Die Ermächtigungsnorm beinhalten nicht das Rechts, die Ermächtigungsnorm anzupassen. Ansonsten wäre der Bundesrat selbst an die Verfassung nicht mehr gebunden. Art. 7 EpG ermöglicht dem Bundesrat also nicht das EpG auf dem Verordnungsweg zu ändern.
Mit Art. 82 f. regelt das EpG die Strafbestimmungen in seinem Anwendungsbereich abschliessend. Damit steht es dem Bundesrat nicht zu, Art. 82 f. EpG durch Art. 10f COVID-19-Verordnung 2 zu ändern.
Der Bundesrat hat einzig die Möglichkeit, die in den Art. 82 f. EpG genannten Normen auf dem Verordnungsweg zu konkretisieren und so Verstösse gegen die Verordnung unter Strafe nach Art. 82 f. EpG zu stellen.
@RA Stocker: Spontan fällt mir kein vernünftiges Gegenargument ein. Wer sieht eines?
vgl. dazu Botschaft Epidemiengesetz vom 03.12.2010, BBl 2011 365:
Art. 7 EPG ermöglicht es, über das geltende Gesetz hinaus bei einer ausserordentlichen, nicht vorhergesehenen Bedrohung der inneren Sicherheit bestimmte Massnahmen zu erlassen, welche das Gesetz nicht spezifisch regelt. Klassisches Notrecht also: “videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat”.
Art. 82/83 EPG gilt folglich bei jeder Lage, die Sanktionen nach Corona-Verordnung eben nur bei Massnahmen, welche sich bei ausserordentlichen Lagen auf Art. 7 EPG abstützen. Entsprechend ist es unlogisch, zu behaupten, Art. 82/83 EPG sei abschliessend. Art. 7 EPG anerkennt ausdrücklich, dass es ausserordentliche Lagen gibt, zu deren Behebung das Gesetz nicht sämtliche Massnahmen schon vorab nennen kann. Entsprechend werden diese Massnahmen an den Bundesrat delegiert.
Dass diese Massnahmen mit eigenständigen Freiheitsstrafen verbunden werden können, ist gemäss Bundesgericht rechtmässig, vgl. dazu den bereits mehrfach erwähnten BGE 123 IV 29. EMRK dürfte auch kein Thema sein, denn erinnerlich reicht nach Art. 7 EMRK sogar Gewohnheitsrecht aus.
My take:
Nach Art. 10f Abs. 1 soll mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft werden, wer sich vorsätzlich Massnahmen nach Artikel 6 (Veranstaltungsverbot, Schliessung öffentlich zugänglicher Einrichtungen) widersetzt.
Die aktuelle COVID-19-Verordnung 2 stützt sich nur noch auf das EpG und nicht mehr (auch) auf Art. 185 Abs. 3 BV (siehe Ingress).
Art. 82 Abs. 1 lit. d EpG sieht Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vor, wenn vorsätzlich Art. 38 EpG (Einschränkung bestimmter Tätigkeiten oder der Berufsausübung) zuwidergehandelt wird. Art. 38 EpG bezieht sich allerdings nur auf Personen, die krank, krankheitsverdächtig, angesteckt oder ansteckungsverdächtig sind oder Krankheitserreger ausscheiden, ist folglich vorliegend nicht anwendbar.
Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG sieht sodann noch bloss einen Übetretungsstraftatbestand für die Missachtung von Massnahmen gegenüber der Bevölkerung vor (Art. 40 EpG, wonach die Kantone Veranstaltungen verbieten und Unternehmen schliessen können). Das dürfte mutatis mutandis auch für Massnahmen des Bundes gelten.
Bleibt für Art. 10f nur der Rückgriff auf Art. 7 EpG, wonach der Bundesrat bei ausserordentlicher Lage “die notwendigen Massnahmen” anordnen darf. Das wird auch neue oder schärfere Strafbestimmungen erfassen. Angesichts der zeitlichen Dringlichkeit und des in Frage stehenden öffentlichen Interesses gehe ich davon aus, dass die Verordnung insoweit den in BGE 123 IV 29, E. 4d, umrissenen Schranken entsprechen dürfte.
M.E. sollte das überwiegende öffentliche Interesse nicht ohne Weiteres bejaht werden. Aber dies ist eine ganz andere Frage, die sich nur die Wenigsten zu stellen scheinen…
Artikel 185 BV lautet:
“Art. 185 Äussere und innere Sicherheit
1 Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz. 2 Er trifft Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit. 3 Er kann, unmittelbar gestützt auf diesen Artikel, Verordnungen und Verfügungen erlassen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen. Solche Verordnungen sind zu befristen. 4 In dringlichen Fällen kann er Truppen aufbieten. Bietet er mehr als 4000 Angehörige der Armee für den Aktivdienst auf oder dauert dieser Einsatz voraussichtlich länger als drei Wochen, so ist unverzüglich die Bundesversammlung einzuberufen.”
Der relevante Text in der Botschaft zum Epidemiegesetz lautet (BBL 211 365f):
“Artikel 7 E-EpG entspricht der Notkompetenz des Bundesrates (Art. 10 EpG) im geltenden Epidemiengesetz. Diese Bestimmung ist deklaratorischer Natur. Sie *wiederholt* auf Gesetzesstufe die verfassungsmässige Kompetenz des Bundesrates *gemäss Artikel 185 Absatz 3 BV* 55, …”
und
“Im Bereich der übertragbaren Krankheiten ist auch in Zukunft mit unvorhersehbaren, akuten schweren Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit zu rechnen, für die das Gesetz keine spezifische Regelung bereit hält. In diesen Fällen, die die innere Sicherheit des Landes gefährden könnten, muss ein rasches und zielgerichtetes Eingreifen möglich sein.”
Das Notrecht der Schweiz und damit Artikel 185 BV wurde im Hinblick auf die zeitkritische Abwendung existenzieller Gefahren der inneren und äusseren Sicherheit geschrieben. Laut der Botschaft muss die *innere Sicherheit* bedroht sein, um Artikel 7 EPG als klassisches, auch verfassungsbrechendes gesetzgeberisches Notrecht, interpretieren zu können, nur dann ist die Verfassungsmässigkeit gegeben. Die Voraussetzung ist bei Covid-19 nicht erfüllt, sie wäre auch dann nicht erfüllt, wenn die Anzahl der zu erwarteten und tatsächlichen Opfer grösser wäre, ohne Gefährdung der inneren Sicherheit.
Die Schweiz kennt mit gutem Grund keine Ermächtigungsgesetze auf Vorrat. Hätten die Regierungen vieler grosser befreundeter liberaler Demokratien nicht selbst ihre Grundrechte gebrochen, hättte sich die Schweizerische Bundesregierung wohl kaum dazu entschlossen.
Was paradoxerweise durch die Präzedenzfallwirkung sehr wohl die langfristige innere Sicherheit der Schweiz gefährden kann, ist gerade der Verfassungsbruch der Exekutive.
Das frage ich mich auch. Eine Strafbestimmung mit Freiheitsstrafe würde ich nicht akzeptieren, andernfalls werde ich eine Kanzlei für Strafrecht aufsuchen.
ich habe folgende Texte kopiert, aus “Das Strafrecht in der Krise”. Ich habe das gegoogelt:
Teilweise wird angenommen, dass unbestimmte Rechtsbegriffe durch eine konsistente Rechtspraxis präzisiert werden können; 111 genau dies scheidet vorliegend aber aus. So ist die Notverordnung gerade darauf ausgelegt, nur für eine sehr begrenzte Zeit zu gelten. Ausserdem waren verschiedene Verhaltensweisen nur sehr kurz der Strafbarkeit unterstellt. Entsprechend ist es unmöglich, eine einheitliche Rechtspraxis zu den unbestimmten Rechtsbegriffen zu entwickeln und damit der entstehenden Rechtsunsicherheit zu begegnen. Insgesamt genügt Art. 10f Abs. 1 den Anforderungen nach Art. 7 EMRK und Art. 1 StGB nicht.
Und:
Momentan ist absehbar, dass im Rahmen von weiteren Lockerungen die Strafbestimmungen aus der COVID-19-Verordnung 2 verschwinden werden. Damit darf die Thematik aber nicht vom Tisch sein. Die getroffenen Massnahmen und insbesondere der Erlass von Strafvorschriften müssen im Nachgang genau analysiert werden, damit Lehren für ähnliche Ereignisse in der Zukunft gezogen werden können.
Der Bundesrat hat sich teilweise fast nonchalant über gesetzliche Erfordernisse und Voraussetzungen hinweggesetzt. Er hat unverhältnismässige Strafen vorgesehen für unbestimmte Verhaltensweisen, die teilweise in einem Verfahren abgehandelt wurden, das eine erhebliche Einschränkung des Rechtsschutzes bedeutet und sich auf keine rechtliche Grundlage stützen kann.
Es ist zentral, dass der bundesrätliche Umgang mit Strafvorschriften in dieser Pandemie genau aufgearbeitet wird, um für zukünftige Krisensituationen gerüstet zu sein. Nur so kann erreicht werden, dass das Strafrecht in der Krise nicht das Strafrecht in die Krise stürzt.